Homeoffice sorgt für mehr Patienten mit Rückenschmerzen

Wenn der Küchentisch im Homeoffice zum Bürotisch wird, bringt das oft körperliche Probleme mit sich. Unsere Lebensgewohnheiten verändern sich. Die Folgen kommen jetzt auch bei den Orthopäden an.
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Das Wartezimmer von Johannes Flechtenmacher und Kollegen in der großen Orthopädie-Gemeinschaftspraxis am Ludwigsplatz war vor der Pandemie meistens voll. Sehr voll. Wer ohne Termin kam, musste lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Corona hat das verändert. Besucher und Patienten kommen dieser Tage in ein fast leeres Wartezimmer.

„Diese Krise hat die Welt in allen Bereichen auf den Kopf gestellt“, sagt Johannes Flechtenmacher. Der Karlsruher Orthopäde steht als Präsident des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. im ständigen Austausch mit vielen seiner Kollegen im In- und Ausland. Mit unserem Redaktionsmitglied Sibylle Kranich sprach er darüber, wie sich der Alltag in seiner eigenen Praxis und darüber hinaus im gesamten Fachgebiet verändert hat.

In Ihrem Wartezimmer warten sonst Dutzende von Patienten. Heute ist es fast leer. Was ist da passiert? Haben Sie keine Patienten mehr?

Dr. med. Johannes Flechtenmacher: Ganz im Gegenteil. Aber Corona hat uns dazu gezwungen, unsere Abläufe zu verändern. Wegen der geltenden Abstandsregeln dürfen nicht mehr so viele Patientinnen und Patienten im Wartezimmer Platz nehmen. Der alte Massenbetrieb ist also vorbei.

Das klingt aus Patientensicht erst mal nach einer guten Nachricht?

Dr. Flechtenmacher: Ja, auch wenn ein Teil unserer Zeit jetzt natürlich in den höheren Hygieneaufwand fließt. Die Pandemie hat uns gezwungen, Abläufe zu verändern und gibt uns die Gelegenheit, Versorgung neu zu denken und neu zu konzipieren.

Heißt das, dass endlich auch mehr Zeit für ein Gespräch zwischen Patient und Arzt bleibt?

Dr. Flechtenmacher: Die Forderung nach mehr sprechender Medizin steht seit langem im Raum - völlig zu Recht. Ohne den alten Massenbetrieb haben wir jetzt endlich den Spielraum, ihr mehr Platz zu geben. Das ist zum Beispiel bei Schmerzerkrankungen wichtig. Schmerz ist keine eindimensionale Reaktion auf ein Geschehen. Er kann auf dem Weg zum Gehirn durch Stress, Angst, Einsamkeit und Abhängigkeit in vielfältiger Weise modifiziert werden. All das muss im ärztlichen Gespräch ausgelotet werden.

Warum haben Sie sich die Zeit für ein Gespräch nicht vor der Krise einfach schon genommen?

Dr. Flechtenmacher: Jeder Deutsche geht laut einer Studie im Jahr 17 oder 18 Mal zum Arzt. Sie können sich also vorstellen, wie viele Patienten zu uns kommen. Das Spektrum ist riesig. Vom eingeklemmten kleinen Finger, den man in zehn Minuten behandeln kann bis hin zu einem Tumorpatienten, für den man sich mindestens eine halbe Stunde Zeit nehmen muss. Wir Orthopäden und Unfallchirurgen fordern, dass wir das Ende des Massenbetriebs nutzen, um neue Schwerpunkte bei der Versorgung zu setzen und der sprechenden Medizin mehr Raum geben. Das bedeutet aber auch, dass sie besser honoriert werden muss.

Der Lockdown hat dazu geführt, dass die Menschen ihre Gewohnheiten ändern mussten. Hatte das auch Auswirkungen auf Ihren Alltag?

Dr. Flechtenmacher: Tatsächlich hat es während der ersten heißen Phase erst mal weniger Unfälle gegeben. Nicht nur im Straßenverkehr, auch im Freizeitbereich. Denn gerade Mannschaftssportarten waren ja tabu. Ich habe keine Statistik geführt. Aber vom Gefühl würde ich sagen, dass wir einen Rückgang um ungefähr zehn Prozent hatten.

Aber Jogger und Fahrradfahrer waren ja trotzdem unterwegs?

Dr. Flechtenmacher: Das konnte man im Wald gut sehen. Wir haben es aber auch daran gemerkt, dass wir mehr Menschen nach Fahrradunfällen behandeln mussten.

Viele Menschen müssen jetzt von zu Hause arbeiten. Manche funktionieren ihren Küchentisch zum Schreibtisch um und sitzen, statt auf im ergonomischen Bürosessel, den ganzen Tag auf dem ganz normalen Esszimmerstuhl. Kommt das auch bei Ihnen an?

Dr. Flechtenmacher: Allerdings. Auch wir können gerade gut beobachten, welche Auswirkungen das Homeoffice auf den Bewegungsapparat hat.

Nämlich, welche?

Dr. Flechtenmacher: Homeoffice ist ein Problem. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Patienten gerade mit Rückenschmerzen zu uns kommen, weil sie den ganzen Tag zu Hause vor dem Rechner sitzen.

Was tun?

Dr. Flechtenmacher: Der beste und einfachste Tipp ist der: Sorgen Sie für ausreichend Bewegung. Es ist einfach keine gute Idee, den ganzen Tag am Rechner zu verbringen und von da direkt vor den Fernseher und dann ins Bett zu gehen.

Hat die Änderung der Lebensgewohnheiten durch Corona noch andere Veränderungen mit sich gebracht?

Dr. Flechtenmacher: Wir haben es auch vermehrt mit Gicht-Anfällen zu tun. Das liegt vermutlich an den veränderten Ernährungsgewohnheiten. Die Menschen essen besser und kochen mehr. Offenbar kam dabei auch viel mehr Fleisch auf den Tisch.

Welche Lehren ziehen Sie und Ihre Kollegen aus den Veränderungen?

Dr. Flechtenmacher: Die Pandemie hat deutlich gemacht, wie wertvoll, die flächendeckende ambulante Facharztschiene in der Bundesrepublik ist. In anderen Ländern gibt es das so nicht.

Das heißt, dass man in Italien, Spanien oder Frankreich mit einem verstauchten Knöchel oder einem akuten Rückenschmerz in eine Klinik gehen muss?

Dr. Flechtenmacher: Ja. In der Regel schon und dabei werden dann Ressourcen blockiert. In Deutschland konnten diese Kranken in ambulanten Facharztpraxen behandelt werden.

Und die Krankenhäuser hatten mehr Platz für andere Patienten…

Dr. Flechtenmacher: Wir waren und sind jederzeit in der Lage, die Kliniken zu entlasten und Patienten mit nicht lebensbedrohlichen orthopädischen und unfallchirurgischen Verletzungen zu versorgen. Dass Deutschland bisher so gut durch die Krise gekommen ist, hat auch damit zu tun, dass die ambulante fachärztliche Versorgung die Kliniken davor bewahrt, an ihre Belastungsgrenzen zu stoßen. Das Fazit muss also sein, diese Schiene weiter zu stärken: strukturell, finanziell und personell. Wir kämpfen seit Jahren für eine Aufwertung in Klinik und Praxis sowie in Aus- und Weiterbildung. Die Coronakrise hat uns gezeigt, dass wir nicht lockerlassen dürfen.

Quelle: Badische Neueste Nachrichten / Autorin: Sibylle Kranich

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