Ein akuter Bandscheibenvorfall: Meist kein Grund für eine OP

Nach einem Blick auf das MRT-Bild ist für den Arzt die Diagnose klar: Ein Bandscheibenvorfall, der operiert werden muss. Doch Petra Lange* hört auf ihr Bauchgefühl und wendet sich an einen weiteren Orthopäden. Ihre Hartnäckigkeit wird belohnt.
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Die Behandlung von Dr. Martin Buchholz, niedergelassener Orthopäde aus Hamburg, hat ihre Schmerzen erfolgreich gelindert, ganz ohne operativen Eingriff. Akute Bandscheibenvorfälle machen tatsächlich weniger als fünf Prozent der Diagnosen im orthopädischen Praxisalltag aus. „Beschwerden, die auf der Grundlage eines Bandscheibenschadens auftreten, werden oft unnötigerweise operiert. Häufig liegt das daran, dass zu früh mit Hilfe von bildgebenden Verfahren Auffälligkeiten gesehen werden, die vermeintlich die Ursache für die Beschwerden sind“, so Dr. Buchholz.

„Doch nicht alles, was auf einer Kernspinaufnahme zu sehen ist, verursacht auch tatsächlich die empfundenen Schmerzen.“ Auch wenn das Thema Bandscheibenvorfall in den Medien sehr präsent ist, machen akute Bandscheibenvorfälle tatsächlich weniger als fünf Prozent der Diagnosen im orthopädischen Praxisalltag aus.Von akut spricht man dann, wenn starke Schmerzen in Folge einer ungünstigen Belastung oder Bewegung plötzlich auftreten. Die Angst, einen Prolaps nuclei pulposi, so die medizinische Bezeichnung für einen Bandscheibenvorfall, zu erleiden, ist in den meisten Fällen unbegründet.„Und selbst wenn tatsächlich eine Bandscheibe verantwortlich für die Schmerzen sein sollte, lassen sich die Beschwerden meist gut ohne OP behandeln“, erklärt Dr. Buchholz.

Was passiert bei einem Bandscheibenvorfall?

Bei einem Bandscheibenvorfall tritt der Gallertkern der Bandscheibe durch den Faserring, der ihn umgibt. Der Fasering kann beispielsweise durch degenerative (verschleißbedingte) Veränderungen defekt sein. Drückt die ausgetretene Masse auf einen Nerv bzw. auf das Rückenmark, kann dies starke Schmerzen und eventuell sogar ein Taubheitsgefühl in den Extremitäten verursachen. Besonders häufig tritt ein Bandscheibenvorfall im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule auf, seltener im Bereich der Halswirbelsäule. „Typisch für einen klassischen Bandscheibenschmerz ist, dass er gar nicht so stark dort auftritt, wo der Bandscheibenvorfall stattfindet, also im Bereich der Lendenwirbelsäule, sondern der Schmerz strahlt in Bein und Fuß aus“, so der Hamburger Orthopäde. „Das Ausbreitungsgebiet des Schmerzes und die Sensibilitätsstörungen wie Missempfindungen, Kribbeln oder Taubheitsgefühl sind abhängig davon, welche Nerven betroffen sind“.

Meist beeinträchtigen die Schmerzen die Betroffenen so stark, dass sie umgehend einen Arzt aufsuchen. Um einen Bandscheibenvorfall zu diagnostizieren, sind normalerweise eine körperliche Untersuchung sowie die Lokalisation des Schmerzes und der Schmerzausstrahlung in Kombination mit einer neurologischen Untersuchung – also der Überprüfung von Nervenstörungen – ausreichend. Bildgebende Verfahren wie Röntgen, CT oder MRT sind hingegen in der Regel nur zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose notwendig. Auch wenn sich starke Rückenschmerzen aufgrund ihrer Intensität anfühlen wie ein Bandscheibenvorfall, handelt es sich fast immer um unspezifische Rückenschmerzen ohne Beteiligung der Bandscheiben.„Rückenschmerzen werden von den Patienten fast immer mit einem Bandscheibenvorfall assoziiert“, berichtet Dr. Buchholz aus seiner Praxis. „Allerdings ist nur in sehr seltenen Fällen ein akuter Bandscheibenvorfall Grund für die Beschwerden.

Weitaus häufiger sind Verschleißerscheinungen an den Facettengelenken im Lendenwirbelsäulenbereich als Folge von Fehl- oder Überbelastungen sowie funktionelle Schmerzen ohne konkrete Ursache Auslöser der Beschwerden.Wichtig ist es, dem Patienten frühestmöglich die Sicherheit zu geben, dass es sich nicht zwangsläufig um einen Bandscheibenvorfall handeln muss.Zudem sollte dem Patienten klar gemacht werden, dass die Behandlung einige Zeit dauern wird – bei konsequenter Therapie, Rückenschmerzen aber sehr gut auch konservativ, d. h. ohne Operation zu behandeln sind“.Meist bessern sich die Beschwerden durch Bewegung und Physiotherapie sowie eine kurzzeitige Einnahme von Schmerzmitteln wieder.

Eine Bandscheiben-Operation ist meist unnötig

Auch wenn eine OP auf den ersten Blick als Therapieoption der ersten Wahl erscheinen mag, sollte dieser Schritt wohl überlegt sein. Denn auch unkomplizierte operative Eingriffe bergen immer gewisse Risiken und die Gefahr von Folgeschäden. „Jede nicht erfolgte Operation vermeidet Komplikationen“, weiß Dr. Buchholz. Beschwerden, die auf der Grundlage eines Bandscheibenschadens auftreten, werden oft unnötigerweise operiert. Die gute Nachricht: In den meisten Fällen ist eine Operation eines akuten Bandscheibenvorfalles nicht notwendig und er lässt sich mit konservativen Methoden behandeln.

Eine bildgebende Untersuchung sollte zudem erst durchgeführt werden, wenn nach mindestens sechswöchiger konsequenter Therapie – meist ein Mix aus Schmerzmedikation, lokaler Infiltrationsbehandlung (Spritzen), leichter Bewegungs- und Physiotherapie – keine Besserung eingetreten ist. „Inzwischen wissen wir, dass durch zu früh erstellte Röntgenaufnahmen und insbesondere detailgetreue Kernspinaufnahmen Veränderungen gesehen werden, die gar nicht für die Schmerzen verantwortlich sind“, so der Hamburger Arzt. „Und selbst ein sichtbarer akuter Bandscheibenvorfall kann häufig mit konservativen Methoden so gut behandelt werden, dass der Patient mit den Beschwerden gut leben kann“. Eine alternative konservative Behandlungsmethode ist die sogenannte PRT (Periradikuläre Therapie). „Bei dieser Methode wird ein Schmerzmedikament, meist ein Lokalanästhetikum in Kombination mit einem Cortisonpräparat direkt an die betroffene Nervenwurzel gespritzt“, erklärt Dr. Buchholz.

„Durch die Injektion des Medikaments bildet sich die Schwellung zurück und die Schmerzen lassen nach. Zusätzlich können weitere neurologische Störungen wie zum Beispiel eine Schädigung der Muskulatur verhindert werden.“ Auch bei Petra Lange* brachte diese Behandlung innerhalb kurzer Zeit den gewünschten Erfolg und die Schmerzen besserten sich. Nach konsequenter Krankengym-nastik und stationärer Reha ist sie heute weitgehend beschwerdefrei und wieder beruflich tätig. Untersuchungen der Krankenkassen zeigen, dass eine ärztliche Zweitmeinung im Falle einer OP-Empfehlung sinnvoll ist. Bis zu 90 Prozent der diagnostizierten Rückenoperationen werden in Folge der Beurteilung durch einen zweiten Arzt nicht durchgeführt.

Auch Dr. Buchholz rät, „Stellt ein Arzt die Indikation für eine sofortige OP, ist es ratsam, eine zweite Meinung einzuholen. Außerdem empfehlen heute die medizinischen Fachgesellschaften, dass eine OP im Regelfalle frühestens nach sechs Wochen konservativer Therapie ohne Besserung der Beschwerden in Erwägung gezogen werden sollte. Einzige Ausnahme: Bei einer Blasen- oder Mastdarmlähmung besteht eine dringende Indikation für eine Operation.“ Akuter Bandscheibenvorfall – wie geht es weiter? Ein Bandscheibenvorfall ist zwar schmerzhaft und schränkt die Lebensqualität für eine Zeit lang ein, Panik ist allerdings fehl am Platz. Meist führen die Patienten nach der Behandlung ein relativ beschwerdefreies Leben ohne größere Einschränkungen. „Während der akuten Phase eines Bandscheibenvorfalls ist zwar Schonung angebracht. Doch sobald es möglich ist, sollten sich die Patienten wieder bewegen. Das beschleunigt die Schmerzverarbeitung. Typische Kontaktsportarten sollten die Betroffenen zunächst besser vermeiden. Gleichmäßige Belastungen wie beim Schwimmen, Radfahren, Nordic Walking und Skilanglauf dagegen sind unbedingt empfehlenswert“, erklärt Dr. Buchholz. „Sind die Patienten wieder beschwerdefrei, sind auch belastende Sportarten wie Tennis und Ballsportarten erlaubt.“

„Und selbst ein sichtbarer akuter Bandscheibenvorfall kann häufig mit konservativen Methoden so gut behandelt werden, so dass der Patient damit gut leben kann.“ Was schützt unsere Bandscheiben? Wie bei allen Rückenleiden ist die Vermeidung von Fehlhaltungen und einseitigen Belastungen die beste Prophylaxe. „Besonders Drehbewegungen unter Last können zu einem Bandscheibenvorfall führen. Zusätzlich sollte der Rücken gut trainiert und Übergewicht vermieden werden. Ein Bandscheibenvorfall ist selten ein monokausales Geschehen, meist spielen verschiedene Auslöser eine Rolle. Auch ein rückengerecht gestalteter Arbeitsplatz kann wesentlich dazu beitragen, einen Bandscheibenvorfall zu verhindern. Besonders wichtig ist Bewegung. Ein Aktiv-Bürostuhl in Kombination mit einem Steh-Sitz-Arbeitsplatz sorgt im Büro für mehr Bewegung und damit für einen rückenfreundlichen Arbeitstag“, so Dr. Buchholz.

„Generell sollte so viel Aktivität wie möglich in den Alltag integriert werden. Helfen können dabei Alltagsgegenstände, die aufgrund ihrer rückengerechten Konstruktion bzw. deren Anwendung den Rücken unterstützen und zu Haltungswechseln anregen. Das AGR-Gütesiegel ist dabei eine gute Orientierungshilfe“, rät er.

Die Wirbelsäule und ihre Bandscheiben

Unsere Wirbelsäule ist eine perfekt aufeinander abgestimmte Stützkonstruktion aus Wirbelkörpern, Facettengelenken (bewegliche Gelenke der Wirbelsäule), Bandscheiben, Muskeln, Sehnen und Bändern. Insgesamt 24 freie Wirbel bilden zusammen mit den beiden verschmolzenen Wirbeln Steißbein und Kreuzbein und den 23 Bandscheiben die charakteristische Doppel-S-Form. Die Krümmung der Wirbelsäule im Bereich des Nackens und der Lende wird als Lordose bezeichnet, die Krümmung der Brustwirbelsäule nach hinten nennt man Kyphose. Die Gesamtbeweglichkeit sowie das funktionelle Bewegungsausmaß der Wirbelsäule als Funktionseinheit und als Organ der aufrechten Haltung werden über die Facettengelenke geregelt. Je eine Bandscheibe befindet sich als elastisches Bindeglied zwischen zwei freien Wirbeln.

Sie setzen sich aus einem festen äußeren Faserstrukturen und einem innenliegenden Kern aus Gallertmasse, der hauptsächlich aus Wasser besteht und deshalb als Stoßdämpfer fungiert, zusammen. Wenn die Bandscheibe belastet wird, verliert sie an Flüssigkeit und schrumpft. Über Nacht saugen sich die Bandscheiben wieder mit Flüssigkeit voll und regenerieren sich. Die Aufnahme und Abgabe von Flüssigkeit versorgt die Bandscheibe mit Nährstoffen. Tägliche Belastungen sind demnach entscheidend für eine optimale Nährstoffversorgung. Eine ständige Überlastung ohne Phasen der Regeneration ist allerdings schädlich für den Bandscheibenstoffwechsel. Täglich vollbringen unsere Bandscheiben Höchstleistungen. Es ist kaum vorstellbar, aber wenn wir einen Wasserkasten von ca. 20 kg falsch heben, also mit gestreckten Beinen und gekrümmtem Oberkörper, lastet auf einigen unserer Bandscheiben ein Druck von über 300 kg.

Übrigens: Wenn wir die natürlichen Körperhaltungen Liegen, Stehen und Sitzen miteinander vergleichen, so wird im Liegen der geringste Druck auf die Bandscheiben ausgeübt und im Sitzen der größte. Entscheidend ist, dass wir regelmäßig unsere Haltung ändern, denn Abwechslung kombiniert mit viel Bewegung ist die beste Vorbeugung gegen Rückenschmerzen.

Quelle: Aktion Gesunder Rücken e. V. - AGR-Magazin Ausgabe 31

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