Biopsychosozial: Die Beratung ist das Wichtigste

"Die biopsychosoziale Anamnese und Beratung sind gerade in der Pandemie noch einmal bedeutender geworden. Biologisch: Man muss sich bewegen. Psychisch und sozial: Der Blick auf das persönliche Umfeld und die aktuelle Belastungssituation, die Lebensumstände." Dr. Johannes Flechtenmacher im Interview mit SoSi-Redakteur Jörg Meyer.
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Johannes Flechtenmacher ist niedergelassener Orthopäde in Karlsruhe und Vorsitzender des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (BVOU). Zu seiner Einschätzung und seinen Erfahrungen in einem Jahr Pandemie und zu den Ursachen von Rückenschmerzen sprach mit ihm Soziale Sicherheit-Redakteur Jörg Meyer.

Sie hatten in einem Interview im vergangenen Oktober von einer Verlagerung der Krankheitsbilder in Ihrem Praxisalltag gesprochen. Es gab weniger Unfälle, weil Menschen weniger unterwegs waren oder beispielsweise der Mannschaftssport nicht stattfinden konnte. Hat sich das im zweiten Lockdown seit Oktober noch einmal verändert?

Nicht wesentlich. Gleichgeblieben ist, dass wir weniger Patient*innen einbestellen, weil die Hygienemaßnahmen, die wir seit dem Frühjahr 2020 haben, weiterführen. Konkret: Wir haben weniger Menschen im Wartezimmer und können weniger Patient*innen am Tag sehen. Einerseits können wir uns so pro Patient*in mehr Zeit nehmen, andererseits führt das auch zu Frust.

Wieso?

Die Menschen sind teilweise frustriert, weil sie keinen Termin bei uns bekommen. Wir sind teilweise frustriert, weil wir Menschen, die unsere Hilfe brauchen, abweisen müssen. Es ist für alle eine schwierige Situation.

Haben Sie die Sprechstunde verlängert, um das aufzufangen?

Ja sicher. Aber das bringt auch wieder Probleme mit sich, weil unser medizinisches Personal länger arbeiten muss. Und wir müssen die Angestellten auch bezahlen. Letztlich ist eine Arztpraxis ein Unternehmen, das von der Behandlung der Patient*innen lebt.

Und was sich an den Krankheitsbildern geändert hat: Wir behandeln mehr Fahrradunfälle, und interessanterweise mehr Gichtanfälle. Wir vermuten, dass im Lockdown mehr zu Hause gekocht und mehr Fleisch gegessen wird, und das führt zu vermehrten Gichtanfällen.

Eine Orthopädin sagte neulich sinngemäß zu mir: »Wir steuern in der Pandemie auf eine Bevölkerung zu, die unter Rückenschmerzen und Depressionen leidet.« Sehen Sie das auch so? Die beiden Krankheiten führen ohnehin seit Jahren die Rangliste der häufigsten Erkrankungen an.

Mit der Aussage muss man vorsichtig sein. Das persönliche Schmerzempfinden kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Für uns als Orthopäden ist das größte Thema die Bewegung. Wir müssen die Menschen in Bewegung versetzen, um aktiv beispielsweise gegen Rückenschmerzen etwas zu tun.

Wir hören oft, dass die Menschen jetzt zu Hause Sport machen, mit Fitnessvideos – oder Sie kaufen sich Fitnessgeräte, besonders Hanteln. Derzeit kommen fast jeden Tag Menschen in meine Praxis, die sich zu Hause mit ihren Fitnessgeräten verletzt haben. Das sind überwiegend Männer mit Schulterbeschwerden.

Aber es gibt sicherlich einen Zusammenhang zwischen Rückenbeschwerden und Corona. In erster Linie bewegen sich die Menschen zu wenig, weil sie zu Hause sitzen und oft in ergonomisch nicht optimalen Situationen arbeiten. Das ist die mechanische Situation, die zu Rückenschmerzen führt. Auf der anderen Seite merken wir, dass viele Menschen einfach auch großen Stress haben. Sie haben möglicherweise ein Kind oder Kinder, um die sie sich kümmern müssen und gleichzeitig den Haushalt stemmen. Davon sind besonders Alleinerziehende betroffen. Die Bewältigung des Alltags ist für viele mit großem Stress verbunden.

Empfehlen Sie ihren Patient*innen öfter als vor der Pandemie, ihre Rückenschmerzen auch psychosomatisch abklären zu lassen?

Das Spektrum der Menschen und der Situationen hat sich sicherlich verändert, aber das ist eher eine gefühlte Veränderung. Wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen sich weniger bewegen und mehr sitzen, dann empfehlen wir ihnen zuallererst, sich mehr zu bewegen. Wenn noch familiär besonders belastende Situationen dazukommen, dann empfehlen wir sicherlich auch, sich bei einem Psychologen vorzustellen. Aber wichtig ist: Wir haben noch keine Zahlen für 2020. Dafür ist die Pandemie zu jung. Belastbare Aussagen können wir dazu nicht treffen.

Was hat denn überhaupt der Rücken mit der Seele zu tun?

Wir unterscheiden spezifischen und unspezifischen Rückenschmerz. Dazu gibt es die Leitlinien vom AWMF, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland, nach denen Fachärzt*innen arbeiten. Nehmen wir den sogenannten unteren oder tiefen Rückenschmerz, sprechen wir vom unspezifischen Rückenschmerz. Also ein Schmerz, der keine direkten Ursachen an der Wirbelsäule hat. Das können Muskelverspannungen oder auch psychische Erkrankungen sein. Der spezifische Rückenschmerz hat demgegenüber
konkrete anatomische Ursachen wie etwa einen Bandscheibenvorfall, Entzündungen oder Frakturen.

Die Aufgabe des Orthopäden ist es, den spezifischen Rückenschmerz gezielt zu behandeln. Wenn der Schmerz nicht spezifisch ist, ist unser Ziel, den oder die Patient*in hin zu einer bestimmten Lebensführung zu beraten…

… wie eingangs erwähnt: Sie nehmen sich pro Patient*in mehr Zeit.

Genau. Die Beratung spielt immer schon eine wichtige Rolle in unserer Arbeit. Die biopsychosoziale Anamnese und Beratung sind gerade in der Pandemie noch einmal bedeutender
geworden. Biologisch: Man muss sich bewegen. Psychisch und sozial: Der Blick auf das persönliche Umfeld und die aktuelle Belastungssituation, die Lebensumstände. Auch da arbeiten wir nach der »Leitlinie Rückenschmerz« der AWMF.

Wie sieht die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Fachärzt*innen vor Ort aus?

Ich bin niedergelassener Arzt. Wenn ein Patient mit einem Bandscheibenvorfall zu mir kommt, der in den Nerv ausstrahlt, dann schicke ich ihn zum Neurologen. Nur der kann die Funktion oder die Schädigung des Nervs überprüfen. Wenn ich in der Beratung sehe, dass der Patient auch psychische Probleme hat, lege ich ihm nah, dass der Besuch bei einem oder einer Psychologin, um das mal anzugucken, das Richtige wäre. Letztlich haben aber die Hausärzt*innen den besten Überblick, weil diese ihre Patient*innen am längsten und am besten kennen.

Zudem haben viele Orthopäd*innen eine Zusatzausbildung in »Psychosomatischer Grundversorgung«. Die ersetzt nicht die Facharztkolleg*innen auf dem Gebiet, aber wir können mit diesem Tool grundlegende Probleme erkennen.

Wie nehmen Ihre Patient*innen das an?

Oft nicht gut, und genau das ist ein Problem. Wenn ich im Gespräch nachfrage, ob es gerade beispielsweise eine familiär besonders belastende Situation gibt oder eine Überlagerung
von Stress und Schmerzen vermute, sagen die Patient*innen oft: »Ja, glauben Sie denn ich bin verrückt? Ich habe Rückenschmerzen, ich muss doch nicht zum Psychiater.«

An der Stelle müssen wir einfühlsam sein und den Menschen, die mit Rückenschmerzen zu uns kommen, das Gefühl geben, dass wir sie ernst nehmen und nicht für »verrückt« halten.

Was dem noch immer verbreitenden gesellschaftlichen Bild von psychischen Erkrankungen entspricht, oder? Einen krummen Rücken, einen Beinbruch kann man sehen und auch den Schmerz. Bei einer Depression sieht man das nicht, die tut nicht weh.

Das stimmt nicht! Die Menschen kommen zu uns, weil ihnen etwas weh tut – also auch eine Depression. Wir müssen dann herausfinden, ob es ein spezifischer oder unspezifischer
Rückenschmerz ist, sehen wo die Ursachen liegen und dann das weitere Vorgehen überlegen. Wenn ein Mensch sich ernst genommen fühlt, folgt er auch eher dem Rat des Arztes.

Ich betone deshalb noch mal: Wir müssen die Patient*innen umfassend und konsequent beraten. Das ist derzeit das Wichtigste.

Was sind aus Ihren Erfahrungen im letzten Jahr Ihre Erwartungen für die Monate nach diesem Lockdown? Wird die Zahl der Rückenschmerzen nach der langen Zeit noch mal stark ansteigen?

Wenn der Frühling beginnt, gehen die Menschen wieder raus, bewegen sich mehr. Dazu wirken die Bewegung und wachsende Helligkeit nach dem Winter antidepressiv. Also
kann ich vermuten, dass die Zahl der Menschen mit Rückenschmerzen nicht großartig steigt, sondern eher sinkt.

Wenn die Sportvereine irgendwann wieder öffnen, werden die Menschen das auch verständlicherweise stark nutzen und wieder beispielsweise Fußball, Handball oder Basketball spielen. Sie sind aber nach der Zeit zu Hause untrainiert. Also kann ich mir gut vorstellen, dass die Zahl der Sportunfälle stark steigen wird. Auch ist davon auszugehen, dass die Zahl der Arbeitsunfälle wieder steigt.

Aber letztlich ist es immer schwer, Vorhersagen zu treffen, und das sind alles nur meine persönlichen Vermutungen und Ideen.

Letzte Frage: Sie und ihr Team sind medizinisches Fachpersonal. Sind sie schon geimpft?

Ich wäre gerne geimpft! Als Beschäftigte einer Orthopädiepraxis sind wir in der Anspruchsgruppe 3 und noch lange nicht an der Reihe – obwohl wir am Tag über 100 Patient*innen sehen. Das ist ein bisschen frustrierend, aber das ist die Realität.

Quelle: Soziale Sicherheit "SozSich 2/2021, S.71f.“

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