Neuropathischer Schmerz

Beim neuropathischen Schmerz ist der Nerv nicht bloß das „Kabel“ für die Weiterleitung eines elektrischen Impulses, welcher im Gehirn als Schmerz wahrgenommen wird, sondern ist selbst das gestörte Organ, welches den Schmerz verursacht. Der Schmerzcharakter unterscheidet sich deutlich vom normalen Schmerz zum Beispiel aufgrund von Verletzungen. Typisch sind Kribbeln, Brennen und andere Missempfindungen.

Das Krankheitsbild findet sich zahlreich in orthopädischen Praxen und Kliniken zum Beispiel in Form von Erkrankungen und Einklemmungen von peripheren Nerven, aber auch als zusätzlicher Faktor bei anderen gängigen orthopädischen Erkrankungen wie dem chronischen Nacken- und Rückenschmerz. Gängige Schmerzmittel sind hier oft nicht oder kaum wirksam, es bedarf der alleinigen oder kombinierten Verwendung anderer Medikamentenklassen.

Ursachen

Der periphere neuropathische Schmerz wird ausgelöst durch eine Verletzung oder Erkrankung der peripheren Nervenbahnen.

Neuropathische Schmerzen treten häufig auf und sind vom sogenannten nozizeptiven Schmerz, also dem „normalen“ hellen stechenden Schmerz abzugrenzen, welcher zum Beispiel entsteht, wenn man sich verletzt. Während beim neuropathischen peripheren Schmerz der Nerv das gestörte Organ ist, ist beim nozizeptiven Schmerz der Nerv lediglich das Organ der Weiterleitung des schmerzauslösenden Impulses aus der Peripherie hin zum Gehirn.

Häufig liegt jedoch ein sogenannter gemischter Schmerz (mixed pain) vor, also eine Kombination aus beidem. Typische Beispiele sind die chronischen Rückenschmerzen bei Bandscheibenschäden, wo neben dem nozizeptiven Schmerz mit der Zeit auch eine neuropathische Komponente durch Kompression von Nerven entsteht (etwa jeder vierte bis sechste chronische Rückenschmerzpatient ist hiervon betroffen), oder das diabetische Fußsyndrom, mit einer Mischung aus degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates, verminderter Durchblutung und polyneuropathischer Erkrankung der Nerven. Zur Erfassung kann man den pain-detect-Fragebogen verwenden.

Orthopädische Erkrankungen

Der peripher entstehende neuropathische Schmerz ist in der orthopädischen Praxis häufig anzutreffen, so zum Beispiel bei Engpass-Syndromen mit Einquetschen eines Nervs zum Beispiel am Handgelenk (Karpaltunnelsyndrom), am Ellenbogen ellenseitig (Sulcus-ulnaris-Syndrom), am Innenknöchel (Tarsaltunnelsyndrom), zwischen den Mittelfußköpfchen (Morton-Neurom), aber auch beim Nackenschmerz und bei Rückenschmerzen mit länger bestehender Wurzelkompression durch einen Bandscheibenschaden und/oder eine knöcherne Einengung. Ebenfalls zu dieser Gruppe gehört die Post-Zoster-Neuralgie und die sehr verbreitete Gruppe der Polyneuropathien, zum Beispiel im Rahmen einer Zuckerkrankheit, bei denen circa ein Drittel aller Erkrankten zusätzlich unter einer schmerzhaften Polyneuropathie leiden.

Neben den peripheren neuropathischen Schmerzarten existieren auch die zentral bedingten neuropathischen Schmerzsyndrome, welche zum Beispiel bei Erkrankungen in einer bestimmten Gehirnstruktur, dem Thalamus, bei multipler Sklerose oder auch bei Morbus Parkinson entstehen können.

Häufigkeit

Insgesamt geht man davon aus, dass etwa sieben bis zehn Prozent der Bevölkerung an einem neuropathischen Schmerzsyndrom erkrankt sind.

Symptome

Durch die Störung der Nerven können eine Vielzahl von Symptomatiken entstehen. Dies können sogenannte Negativsymptome sein, wie zum Beispiel Analgesie (fehlende Schmerzempfindung), Anästhesie (komplette Störung der Empfindung, sowohl Schmerz als auch Sensibilität), Hypästhesie (herabgesetzte Sensibilität), Parästhesie (gestörte Sensibilität, Fehlempfindungen) und abgeschwächte oder aufgehobene Muskeleigenreflexe. Daneben können aber auch sogenannte Positivsymptome auftauchen wie Hyperästhesie (übersteigerte Sensibilität), Hyperalgesie (übersteigerte Schmerzempfindung) und Hyperreflexie (übersteigerte Reflexantworten) auftreten.

Beim Patienten äußert sich dies zum Beispiel in Fehlempfindungen wie Brennen und Kribbeln, Stromschlägen, aber auch Schmerzen mit gleichzeitigem Taubheitsgefühl.

Therapie

Insgesamt ist bei der Mehrzahl der Patienten oft nur eine relative Schmerzreduktion um circa 30 bis 50 Prozent ein realistisches Ziel, eine weitgehende bis völlige Beschwerdefreiheit ist die Ausnahme. Man geht davon aus, dass etwa 20 bis 40 Prozent der Betroffenen durch ungenügendes Ansprechen der Medikamente und/oder nicht tolerable Nebenwirkungen das Mindestziel einer Schmerzreduktion von mindestens 30 Prozent nicht erreichen.

Therapeutisch infrage kommen trizyklische Antidepressiva (TCA), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI), Antikonvulsiva wie Pregabalin und Gabapentin, Opioide der Substanzklassen WHO II und III, Capsaicin-Pflaster sowie als neue mögliche Substanz auch Botulinumtoxin. Die wissenschaftliche Absicherung durch qualitativ hochwertige Studien mit Wirksamkeitsnachweis ist bei den Opioiden geringer als bei den anderen Medikamenten, beim Botulinumtoxin ist der Wirksamkeitsnachweis im Vergleich am geringsten.

Mit Ausnahme des Pflasters und des Botulinumtoxins ist allen Medikamenten gemeinsam, dass sie auch eine Reihe von zentral nervös bedingten Nebenwirkungen aufweisen können, wie zum Beispiel Müdigkeit, Schwindel und zum Teil auch Übelkeit und Gewichtszunahme. Ferner können manche Medikamente zum Teil Wochen benötigen, bis sie ihre volle Wirksamkeit erreichen. In vielen Fällen erscheint eine Kombination der einzelnen medikamentösen Verfahren als auch eine Kombination mit nicht medikamentöser Behandlung wie Physiotherapie, TENS und auch psychotherapeutischen Verfahren sinnvoll.

Die TCA und SSNRI wirken antidepressiv und aktivieren zusätzlich körpereigene schmerzhemmende Bahnen im Zentralnervensystem.

Klassische Schmerzmittel aus der Reihe der Opioide mit geringerer Wirkstärke wie zum Beispiel Tramadolor (WHO II, normale Rezepte) sollten zunächst nur für maximal ein bis drei Monate eingesetzt werden. Zeigen diese Medikamente Wirkung und werden gut vertragen, so kann man sie auch langfristig einsetzen. Gleiches gilt für Opioide mit höherer Wirkstärke wie zum Beispiel Tapendadol (WHO III, Rezepte nach dem Betäubungsmittelgesetz). Diese Medikamente blockieren Schmerzrezeptoren im Gehirn und sorgen damit für eine Schmerzreduktion. Ein Vorteil dieser Präparate gegenüber den anderen Klassen besteht darin, dass sie in der Regel sehr schnell wirken, meist werden diese Stoffe in Kombination mit anderen Präparaten verwendet.

Eine Sonderstellung nehmen die Capsaicin-Pflaster ein, welche jedoch nicht an allen Stellen sinnvoll eingesetzt werden können: sie wirken direkt lokal auf dem behandelten Hautareal, können aber dort lokal wiederum Rötungen und Schmerzen hervorrufen. Die Pflaster werden einmalig für eine halbe bis eine Stunde auf die betroffenen Hautareale aufgeklebt. Eine Anwendung im Gesicht ist nicht möglich. Die erneute Anwendung an anderen Hautarealen ist nach drei Monaten möglich. Alternativ kann man auch Pflaster mit dem Lokalanästhetikum Lidocain verwenden, welches lokal die Entstehung von pathologischen Nervenerregungen blockiert, es wird täglich für jeweils einen halben Tag aufgesetzt.

In bestimmten Gebieten des Rückenmarks, der nächsten Schaltregion auf dem Weg des schmerzauslösenden elektrischen Impulses vom Nerv hin zum schmerzwahrnehmenden Teil des Gehirns, kann es zu einer Übererregbarkeit bestimmter Nervenzellen kommen. An dieser Stelle setzen die Antikonvulsiva Pregabalin und Gabapentin hemmend an, diese Medikamente sind für die Indikation auch offiziell zugelassen.

Bei der Verletzung eines peripheren Nervs kommt es zu einer Immunreaktion, bei welcher kompetente Zellen eine Reihe von Stoffen freisetzen, welche einerseits die Reparatur fördern, andererseits aber auch die Entstehung von neuropathischen Schmerzen begünstigen können. Die Freisetzung dieser Stoffe kann nach neueren Forschungen wohl durch Botulinumtoxin blockiert werden, dies gilt als mögliche Erklärung für die teilweise gegebene therapeutische Wirksamkeit dieses Medikamentes beim neuropathischen Schmerz. Die Mechanismen sind jedoch noch nicht vollständig geklärt und der Einsatz des Medikamentes auch (noch) nicht zugelassen.

Im Einzelfall kann entgegen den sonstigen Empfehlungen eine zusätzliche Therapie mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und mit Opioiden der Klasse WHO II oder gegebenenfalls sogar Klasse WHO III sinnvoll sein, und zwar beim mixed pain, um die nozizeptive Schmerzkomponente zu behandeln.

Literatur und weiterführende Links

Projekt painDetect: http://www.pain-detect.de (Abgerufen am 26.07.2017).

Binder, A. / Baron, R.: The pharmacological therapy of chronic neuropathic pain. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 616–26.

Griebe, A. / Benrath, J.: Mechanismen neuropathischer Schmerzen. In: Standl, T. u. a. (Hrsg.): Schmerztherapie. Stuttgart: Thieme, 2. Auflage 2010.

Hinweise für Patienten

Dieser Lexikoneintrag enthält nur allgemeine Informationen und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.

Off-Label-Use
Hinweis: Die Anwendung des oder der oben genannten Arzneimittel ist für die aufgeführten Indikationen eventuell nicht offiziell zugelassen. Es handelt sich in diesem Fall um einen sogenannten Off-Label-Use des Präparates, der von gesetzlichen oder privaten Krankenkassen oder Beihilfen in der Regel nicht erstattet wird.
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Umstrittene Wirksamkeit
Hinweis: Bei den oben aufgeführten Diagnose- bzw. Behandlungsverfahren kann es sich eventuell um wissenschaftlich umstrittene und derzeit nicht von allen Experten wissenschaftlich anerkannte Methoden handeln. Die Kosten dieser Anwendungen werden von gesetzlichen oder privaten Krankenkassen oder Beihilfen in der Regel nicht erstattet.
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