Schmerzsyndrome

Der Schmerz ist in der Regel eines der zentralen Symptome einer Erkrankung oder Verletzung und für Patienten unmittelbar spürbar. Vor allem ist Schmerz aber auch ein subjektives Empfinden, das individuell unterschiedlich wahrgenommen wird und nicht immer direkt auf eine nachweisbare Störung zurückgeführt werden kann.

Der Schmerz: Arten, Einteilung und Messung

Die Internationale Vereinigung für die Studie des Schmerzes (IASP – International Association for the Study of Pain) definiert Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, welches mit einer tatsächlichen oder potentiellen Gewebeschädigung verknüpft ist. Schmerz ist demnach ein subjektives Empfinden, wobei die Existenz und die Art des Schmerzes nicht notwendig mit potentiell erkennbaren Ursachen in Zusammenhang stehen müssen. So trifft man im orthopädischen Alltag häufig auf Patientinnen und Patienten, bei welchen klinisch und radiologisch starke Beeinträchtigungen zeigen, jedoch kaum oder nur relativ geringe Schmerzen empfinden. Umgekehrt sind andere Patienten ohne deutlich nachweisbare Störungen stark schmerzgeplagt.

Neben den individuell unterschiedlichen Schmerzwahrnehmungen im Vergleich mit anderen Personen können auch bei ein und derselben Person Schwankungen zum Beispiel im Tagesverlauf oder situativ bedingt auftreten: Bekannt ist hier zum Beispiel ein Biorhythmus mit Schmerzspitzen nach Mitternacht.

Akuter Schmerz

Der akute Schmerz ist primär ein Zeichen einer Gewebeverletzung oder einer drohenden Schädigung, beispielsweise der Schmerz bei einer Schnittwunde oder der Kontakt mit einer heißen Herdplatte, bei letztgenannten ist der Charakter des Schmerzes zugleich ein Warnhinweis des Körpers: Beim Belassen der Hand auf der Herdplatte drohen stärkere Verbrennungen. Akute Schmerzen dauern meist nur kurz bis hin zu einigen Tagen an und haben meist eine gute Prognose.

Chronischer Schmerz

In manchen Fällen chronifizieren die Schmerzen jedoch: So kann teils die Ursache nicht behandelt werden oder die Behandlung bedarf größerer und längerer Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Tumorerkrankung oder ein fortgeschrittener Gelenksverschleiß. In manchen anderen Fällen bleibt der Schmerz trotz eigentlich ausreichender Behandlung und aus nicht hinreichend erklärbaren Gründen bestehen. In manchen Fällen entwickelt sich ein eigenständiges chronisches Schmerzsyndrom, bei welchem der Schmerz seinen Warncharakter verloren hat. Hier fehlt dann die bei akutem Schmerz auftretende Symptomatik des Sympathikus, einem Teil des vegetativen Nervensystems, welcher Körperfunktionen steuert, die den Körper in erhöhte Leistungsbereitschaft versetzen. Dazu gehört ein vermehrter Antrieb, vermehrte Atmung, vermehrte Herzleistung und Muskelaktivität. Vielmehr zeigen sich bei chronischen Schmerzzuständen Symptome wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, depressive Verstimmungen, verminderte Aktivität und verminderte Schmerztoleranz.

Man kann nicht immer zeitlich exakt bestimmen, wie lange ein Schmerz noch als akut und ab wann er als chronisch gilt, die Übergänge sind vielmehr fließend. Ebenso wie die Gefahr der Chronifizierung mit der Dauer des Schmerzes steigt, reduzieren sich dabei gleichzeitig auch die Möglichkeiten der Behandlung.

Nozizeptive, neuropathische und gemischte Schmerzen (mixed pain)

Der nozizeptive Schmerz ist der typische helle stechende Schmerz, zum Beispiel bei Verletzungen durch mechanische, biochemische oder thermische Reize. Diese werden über Rezeptoren erfasst und über die Nervenbahnen zum Rückenmark und dann zu bestimmten Gehirnstrukturen geleitet. Erst dann wird aus der elektrischen oder chemischen Information die subjektive Wahrnehmung des Schmerzes. Die Nervenbahnen dienen hier also quasi nur der Weiterleitung, ähnlich dem Kabel zwischen dem Smartphone und den Kopfhörern. Der Schmerzort selbst ist in der Regel gut lokalisierbar. Zu den nozizeptiven Schmerzen zählen neben den oben genannten somatischen (das heißt körperlichen) Schmerzen auch die sogenannten visceralen, eher dumpf-ziehenden Beschwerden bei Störungen der inneren Organe, welche aber im Vergleich in der Regel nicht so gut lokalisiert werden können.

Beim neuropathischen Schmerz sind dagegen die Leitungsbahnen selber gestört, hier stehen eher andere Missempfindungen wie Kribbeln oder Brennen im Vordergrund. Ein gemischter Schmerz ist die Kombination aus nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen, wobei diese teilweise rasch nebeneinander auftreten (zum Beispiel beim Bandscheibenvorfall mit Druck auf den Spinalnerv), sich teilweise aber auch zeitlich gestaffelt ausprägen. Ferner kann als Faustformel gelten: je länger ein Schmerz besteht, desto häufiger beinhaltet er auch neuropathische Komponenten.

Schmerzmessung

Schmerzstärke

Ein einfaches Verfahren zur Abschätzung der Schmerzstärke stellt die numerische und die visuelle Analogskala dar. Die numerische Schmerzanalogskala NAS ist eine lineare Skala mit Werten zwischen null und zehn bzw. 100, wobei null eine Schmerzfreiheit bedeutet und zehn bzw. 100 den maximal vorstellbaren Schmerz darstellt. Für Patientinnen oder Patienten, welche aus unterschiedlichen Gründen noch nicht, nicht oder nicht mehr eine Zuordnung zu Zahlen durchführen können, existieren Varianten in Form der sogenannten visuellen Analogskala. Hier kann man die Schmerzstärke anhand der Höhe von Balken darstellen (kleiner Balken gleich geringer Schmerz, großer Balken gleich starker Schmerz) oder auch anhand von skizzierten Gesichtern mit Lächeln (kein Schmerz) bis zu einer schmerzgequälten Darstellung mit heruntergezogenen Mundwinkeln (starker Schmerz). Diese Skalen können auch teilweise zueinander in Verbindung gesetzt werden. Bei diesem Verfahren sollten mindestens drei und am besten fünf Werte erhoben werden: aktuelle Schmerzstärke, maximale Schmerzstärke, Durchschnittswert für den letzten Monat und gegebenenfalls zusätzlich auch Wunschmittelwert sowie minimale Schmerzstärke.

Aus diesen Angaben lassen sich eine Vielzahl von Informationen herauslesen: Neben der aktuellen Stärke kann man auch erfassen, ob es sich um einen Dauerschmerz oder einen episodischen Schmerz handelt oder ob Hinweise auf eine Chronifizierung vorliegen. Schließlich kann, auch als möglicher Hinweis auf die Aussichten einer sinnvollen Schmerztherapie, der Mittelwert und der Wunschmittelwert der Schmerzstärke ermittelt werden: Realistisch gilt eine Reduktion der Schmerzstärke um etwa die Hälfte als Therapieerfolg. Sind die Mittelwerte der Schmerzstärke bereits im hohen Bereich, ist das Erreichen eines Wunschmittelwertes im niedrigen Bereich oder sogar die Reduktion der Schmerzen auf einen Wert von null meist keine realistische Therapieerwartung.

Alternativ zur Skala zwischen null und zehn existieren auch Einteilungen zwischen null und vier Stufen. Hier gilt als Therapieerfolg eine Reduktion um mindestens die Hälfte oder mindestens zwei Stufen, also zum Beispiel von Stufe vier auf Stufe zwei oder von Stufe eins auf Stufe null. Bei der einmaligen Erhebung der Schmerzanalogskalen besteht das Problem, dass je nach individueller und tageszeitlicher Schwankung unterschiedliche Werte erfasst werden können. Zudem können Abschätzungen, die im Nachhinein erfolgen, über selbst einen Monat schon zu Verzerrungen führen. Zur genauen Erfassung dient dann ein sogenanntes Schmerztagebuch, in welchem die Betroffenen einmal oder mehrmals täglich über einen längeren Zeitraum ihre aktuelle Beschwerdestärke erfassen. Auch hierbei sind natürlich Verfälschungen möglich, man kann aber hierdurch ein gewisses Bild erlangen.

Neuropathischer Schmerz und Schmerzverlauf

Zur Klärung der Frage, ob eine neuropathische Schmerzkomponente vorhanden ist, kann man auf den pain-detect-Schmerzfragebogen zurückgreifen. Dieser Fragebogen beinhaltet neben der Berücksichtigung der neuropathischen Schmerzqualitäten auch eine numerische Schmerzanalogskala zur Erfassung der Schmerzstärke sowie eine Abgrenzung des Schmerzverlaufes, wobei diese auch in die Auswertung des Fragebogens Eingang finden. Hinsichtlich des Schmerzverlaufes erfolgt eine einfache Einteilung in „Dauerschmerzen mit leichten Schwankungen“, „Dauerschmerzen mit Schmerzattacken“, „Schmerzattacken und dazwischen schmerzfrei“ sowie „Schmerzattacken und dazwischen Schmerzen“.

Einschätzung chronischer Schmerzen mit dem Stadienkonzept nach Gerbershagen

Um chronische Schmerzen zu erfassen und zu klassifizieren, kann das Stadienkonzept des Mainzer Schmerzmediziners Prof. H. U. Gerbershagen eingesetzt werden. Hier untersucht man vier verschiedene Aspekte: die Zeit (wie oft und wie lange treten Schmerzen auf, Intensitätswechsel), die räumliche Lokalisation (wie viele Körperstellen tun weh), die medikamentöse Behandlung (welche Medikamente wurden in welcher Dosierung und wie lange eingenommen, gegebenenfalls Entzugsbehandlungen) und die individuelle Anamnese (stationäre Krankenhausbehandlung wegen Schmerzen, Operationen und Rehaverfahren, Arztwechsel). Jedem dieser vier Aspekte werden drei Stadien zugeordnet, sodass man über ein Berechnungsverfahren einen bestimmten Wert erreicht. Diese Werte werden drei Stadien zugeordnet:

  • Erstes Stadium: wechselnd starke zeitlich begrenzte Schmerzen in einer Region, die Schmerzmitteleinnahme entspricht der Beschwerdesymptomatik, es findet kein Arztwechsel statt, höchstens eine Operation und/oder ein stationärer schmerzbedingter Krankenhausaufenthalt
  • Zweites Stadium: Schmerzen sind anhaltend und in der Stärke mit nur geringen Schwankungen, mehrere Körperstellen tun weh, es werden vermehrt oder grenzwertig auch missbräuchlich Schmerzmittel eingenommen, zwei bis drei stationäre Aufenthalte und/oder Operationen, ein bis zwei Arztwechsel
  • Drittes Stadium: konstante Schmerzen ohne große Intensitätsschwankungen, viele schmerzhafte Körperstellen, mehr als drei stationäre Aufenthalte, Operationen und Arztwechsel, mehrfache Entzugsbehandlungen

Weitere Fragebögen

Neben dem pain-detect-Schmerzfragebogen, welcher neuropathische Schmerzen und die Schmerzstärke erfasst, und der Einschätzung der chronischen Schmerzkrankheit nach Gerbershagen existieren noch eine Vielzahl von weiteren Tests, welche jedoch für die tägliche orthopädische Routine in Klinik und Praxis eher eine untergeordnete Rolle spielen bzw. eher im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie in Abstimmung mit Psychologen sowie neurologisch-psychiatrischen Spezialisten bei weiteren fachspezifischen Erkrankungen Verwendung finden.

  • In vielen Fällen treten Schmerzzustände gemeinsam mit depressiven Zuständen auf, wobei die depressive Erkrankung die Schmerzsymptomatik auch oft verstärkt. Zur Erfassung einer depressiven Symptomatik kann zum Beispiel das BeckDepressions-Inventar oder die Allgemeine Depressionsskala genutzt werden.
  • Beim PainDisability-Index geht es um die Erfassung der subjektiven Beeinträchtigung im Alltagsleben durch die Schmerzproblematik. Erfasst werden die sieben Bereiche familiäre und häusliche Verpflichtungen, Erholung, soziale Aktivitäten, Beruf, Sexualleben, Selbstversorgung und lebensnotwendige Tätigkeiten (Essen, Schlafen, Atmen), jeweils mit einer Skala von null (keine Beeinträchtigung) bis zehn (völlige Beeinträchtigung).
  • Zur umfassenden Einschätzung der Lebensqualität und des Gesundheitszustandes ist der Gesundheitsfragebogen „SF36“ gängig.
  • Ein sehr umfangreicher Schmerzfragebogen mit dem Titel „Deutscher Schmerzfragebogen“ wurde von der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes entwickelt. Hier werden über 100 Punkte abgefragt, unter anderem Alter, Geschlecht, Körpergröße, Angaben zu Schmerzlokalisation, Schmerzverlauf, Schmerzwahrnehmung und Schmerzstärke, Angaben zur Lebensqualität, Depressionserfassungsfragen, bisherige und aktuelle konservative und operative Therapien und Angaben zu anderen Erkrankungen.

Literatur und weiterführende Links

Deutscher Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes: http://www.dgss.org/fileadmin/pdf/DSF_Anamnese_Muster.pdf (Abruf 28.07.2017)

Projekt painDetect: http://www.pain-detect.de (Abruf 26.07.2017)

Allgemeine Depressionsskala: http://www.psychotherapie-verhaltenstherapie.de/22.html (Abruf 28.07.2017)

SF-36 - Fragebogen zum Gesundheitszustand: https://www.zpid.de/retrieval/PSYNDEXTests.php?id=9003482 (Abruf 28.07.2017)

Pain-Disability-Index: https://www.zpid.de/pub/tests/PT_9003694_PDI_Fragebogen.pdf (Abruf 28.07.2017)

pain-detect Schmerzfragebogen

Grond, S. / Radbruch, L.: Taxonomie, Systematik der Schmerzdokumentation und Kodierung. In: Standl, T. u.a. (Hrsg.): Schmerztherapie. Georg Thieme Verlag: Stuttgart, 2. Auflage, 2010.

Pfingsten, M.: Anamnese und Schmerzfragebögen. In: Standl, T. u.a. (Hrsg.): Schmerztherapie. Georg Thieme Verlag: Stuttgart, 2. Auflage, 2010.Schulz, A. / Schöffel, D.: Begutachtung von Schmerzen bei Osteoporose. Osteologie, 2008, 4, 234-236.

Widder, B.: Befundvalidierung. In: Schiltenwolf, M. / Hollo, D. (Hrsg): Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane. Georg Thieme Verlag: Stuttgart, 6. Auflage, 2013.

Hinweise für Patienten

Dieser Lexikoneintrag enthält nur allgemeine Informationen und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.

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