Prävention muss endlich systematisch im Kinder- und Jugendsport Einzug halten
Leider nehmen akute Verletzungen wie Brüche, Prellungen und Zerrungen aber auch Überbelastungsschäden an Gelenken und Knochen bei Kindern und Jugendlichen der-zeit beinahe epidemisch zu. Etwa ein Drittel aller Notfälle bei älteren Kindern und Jugendlichen gehen auf eine Sportverletzung zurück. In den USA fallen jährlich bis zu 3,5 Millionen Sportverletzungen bei Kindern unter 14 Jahren an. Etwa die Hälfte davon sind Überlastungsschäden, die man in der Regel nur bei Erwachsenen vorfinden sollte. Die Situation in Deutschland und Europa scheint ähnlich zu sein. Die Gesamtzahl der Sportverletzungen ist in Deutschland aber leider noch nicht bekannt, da sie nicht systematisch registriert werden.
Genannt seien hier als Beispiel die Häufigkeit und Schwere der vielen Verletzungen des vorderen Kreuzbandes (VKB). Die Inzidenz der VKB-Verletzungen zeigte in den entsprechenden Risikosportarten wie Fußball, Handball oder Basketball einen signifikanten Anstieg. In diesen 3 Sportarten alleine kommt es in Deutschland schätzungsweise zu etwa 100.000 VKB Verletzungen pro Jahr. Kinder und Jugendliche stellen die Alterskategorie mit dem höchsten Zuwachs an VKB Verletzungen dar. Verhältnismäßig häufiger sind junge Frauen und Mädchen betroffen.
Obwohl die Mehrzahl von diesen Verletzungen erfolgreich therapiert werden können haben neuere Daten ergeben, dass es bei unter 20-jährigen Patienten in einem von 3 Fällen zu einer Zweitruptur – sei es zu einer Rezidivruptur an der operierten, oder aber einer VKB Ruptur des gegenseitigen Kniegelenkes kommt. Das Kniegelenk altert durch diese Verletzung auf einen Schlag um 10 bis 20 Jahre. Im weiteren Verlauf werden häufig mehrere Operationen erforderlich. Zeichen der Gonarthrose finden sich bei 3 Patienten von 4 nach bereits 10 Jahren. Dies ist insbesondere bei Verlust eines oder beider Menisken der Fall.
Die wissenschaftliche Datenlage beweist eindeutig, dass eine Vielzahl von diesen Läsionen durch ein adäquates Präventionstraining hätten verhindert werden können. Allzu häufig müssen wir als behandelnde Kliniker uns mit einer therapeutischen Negativspirale nach einer initialen, potentiell vermeidbaren Sportverletzung auseinandersetzen. Das Gesamtbild der Einzelschicksale der betroffenen Sportler sowie die langfristigen direkten und indirekten Kosten der Behandlung von Sportverletzungen sind derzeit noch nicht absehbar. Wenn die Anzahl dieser und anderer vermeidbarer Verletzungen so hoch ansteigt, dass sie riskiert, zu einem ernsten Problem des öffentlichen Gesundheitssystems zu werden, ist es Zeit schnell zu handeln. Das IOC ist sich dieser Problematik bereits bewusstgeworden und hat im Herbst 2017 ein globales Konsensusmeeting zum Thema der VKB Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen einberufen. Die Ergebnisse zur Prävention und Behandlung dieser Verletzungen wurden weltweit publiziert.
Eine der Hauptursachen für die zunehmenden Verletzungen ist ganz klar die häufig fehlende, nicht ausreichende oder falsch ausgeführte Verletzungsprävention. In vielen Fällen würden sich bereits durch ein adäquates Präventionstraining oder maßvollere Sporteinheiten Verletzungen und deren Spätfolgen vermeiden lassen. Prävention wird bislang im Leistungs- und im Breitensport gleichermaßen vernachlässigt. Dabei ist es wichtig, dass wir bereits in der Kita mit den richtigen Präventions-Bewegungsprogrammen beginnen, weiterführend die Prävention im Schulsport implementieren und sie dann fest im Vereins- und Leistungssport verankern. Kinder und Jugendliche müssen Präventions-Übungen und Programme so selbstverständlich ausführen, wie das anschließende Training.
Prävention von Sportverletzungen ist wie Zähneputzen zur Vermeidung von Karies
Unsere Rolle als Sportmediziner und Chirurgen beschränkt sich nicht nur auf die Behandlung und Heilung von physischen Problemen, sondern muss zunehmend der Prävention Rechnung tragen, insbesondere durch professionelle Zusammenarbeit sowie Steigerung des politischen Bewusstseins für diese Problematik. Fragt man politische Entscheidungsträger über ihren Kenntnisstand im Bereich der Sportmedizin, steht ihre Antwort häufiger mit Doping im Zusammenhang als mit Sportverletzungen. Die Prävention, Behandlung und Rehabilitation von verletzten Sportlern werden selten thematisiert. Die tägliche sportärztliche Arbeit in der Behandlung – und noch wichtiger in der Prävention – von Sportverletzungen ist fast gänzlich unbekannt.
Es ist Aufgabe von Sportmedizinern und Politik gleichermaßen eine gesunde sportliche Entwicklung zu fördern. Wir müssen Schäden für die Zukunft der jungen Sportler vermeiden, nicht nur in deren sportlichen Entwicklung, sondern noch wichtiger für ein gesundes und schmerzfreies Leben nach dem Sport. Es ist inakzeptabel, dass potentiell vermeidbare Verletzungen der Grund für spätere körperliche Einschränkungen sind. Das Wissen um die vielen Präventionsmöglichkeiten dieser Verletzungen erfordert ein größeres Bewusstsein. Häufig hapert es aber am Kenntnisstand des betreuenden Umfeldes der Kinder und Jugendlichen. Das zeigt, dass wir überhaupt erst einmal Pädagogen, Sportlehrer, Trainer, Ärzte und Physiotherapeuten professionell und systematisch Schulen müssen bzw. dass Präventionsprogramme in ihrer Ausbildung verankert werden müssen.
Die Gesellschaft für orthopädisch-traumatologische Sportmedizin erarbeitet derzeit Strategien zur Prävention von Sportverletzungen. Die speziellen Programme werden zusammen mit Experten aufgelegt, die die entsprechenden jungen Athleten betreuen: vom Fußball bis zum Judo, vom Tennis bis zum Wassersport. Zusammenfassende Empfehlungen der GOTS zur Prävention von Sportverletzungen werden in einer gemeinsamen Publikation „Primärprävention von Sportverletzungen und -schäden“ bis zum nächsten Jahreskongress der GOTS im Juni 2020 veröffentlicht. Einige wichtige seien bereits hier schon genannt:
Zu fordern ist eine systematische Erfassung und Quantifizierung der Sportverletzungen und Sportschäden im organisierten Sport. Aufgrund einer wissenschaftlich nachgewiesenen Reduktion der Verletzungen von ca. 50% unter systematischer Anwendung von Präventionsprogrammen (allgemein-, struktur- und sportartspezifisch) sollte die Prävention konsequent ins Training eingebaut werden. Die Vermittlung von motorischen Fähigkeiten und Bewegungsfertigkeiten muss stärker im Kindesalter (Kindergarten, Schule, Sportverein) erfolgen. Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Versicherungsträgern müssen interdisziplinär zusammenarbeiten. Die Präventionsforschung muss dringend ausgeweitet werden. Hierzu gehören die Erarbeitung und Validierung von Präventionsprogrammen, die Ausweitung der Implementierungsforschung, die Erarbeitung von Methoden für individualisierte Prävention, Kosteneffektivitätsanalysen von Bewegungsmaßnahmen, neue Technologien und deren Einsatz. Beim Einsatz neuer Technologien (Sensoren, Wearables, Smartphone, App, Social Media, künstliche Intelligenz) sind das Erarbeiten von sinnvollen Messparametern, die Validierung und Interpretation, inklusive Qualitätssicherung und Beachtung ethischer Aspekte zu fordern. Nicht zuletzt sollte die Lenkung staatlicher Gelder (z.B. Zuckersteuer/Tabaksteuer) mit Zweckbindung zur Bewegungsförderung und Prävention in Erwägung gezogen werden.