Die ganze Welt in einer Hand
Vor das Kennenlernen zweier Menschen haben die Regeln des Anstands und guter Umgangsformen den Händedruck gesetzt: Mit angenehmer Kraft ausgeführt, kann er dazu beitragen, dass wir einen positiven Eindruck von unserem Gegenüber bekommen. Umgekehrt kann ein kalter, feuchter Händedruck dafür sorgen, dass zwischenmenschliche Beziehungen vorzeitig abgebrochen werden.
Die Symbolkraft zweier ineinandergreifender Hände ist groß: „Wir haben uns geeinigt“ – signalisiert ein Handschlag. Bilder von Politikern, die sich die Hände reichen, bedeuten uns den finalen, für alle Seiten zufriedenstellenden Abschluss langwährender Debatten. In der Religion ist der Fingerzeig Gottes der alles entscheidende: Michelangelos Darstellung der Schöpfung Adams an der Decke der Sixtinischen Kapelle gehört zu den bekanntesten der abendländischen Kunst. An Gottes ausgestrecktem Finger liegt der Mensch, zärtlich und auf immer mit seinem Schöpfer verbunden, gleichsam seinen Auftrag empfangend: Geh und mach dir die Erde untertan.
Eine sensible Konstruktion
Es liegt auf der Hand, dass es mit der menschlichen Hand einiges auf sich hat. Ihr Bauplan ist kompliziert, komplizierter als der anderer Gliedmaßen. Mit ihren 27 Knochen, 33 Muskeln und den dazugehörigen Sehnen und Bändern ist sie ein faszinierendes Präzisionswerkzeug. Sie ist das einzige Organ des menschlichen Körpers, auf dem einer der fünf Sinne außerhalb des Kopfes lokalisiert ist: nämlich der Tastsinn. Insgesamt 17.000 Tastkörperchen – das sind freie Nervenenden, die Druck-, Bewegungs- oder Vibrationsreize aufnehmen und weiterleiten – liegen in jeder Handfläche. Damit „begreifen“ wir die Welt
im wahrsten Sinne des Wortes: Wollen wir ein Ding verstehen, nehmen wir es am liebsten in die Hand. Kleine Kinder erobern sich die Welt, indem sie das, was sich in greifbarer Nähe befindet, anfassen, drehen und wenden und von allen Seiten betasten.
Die Hirnforschung veranschaulicht den immensen Einfluss, den die Hand auf das menschliche Denken ausübt, am so genannten Homunkulus oder auch „Handmännchen“. Die Körpermaße dieser Figur spiegeln die Bedeutung der Körperteile für die Großhirnrinde wider. Die Hände und der Kopf des Männchens sind überdimensional groß im Vergleich zum Rest.
Werkzeug des Geistes
Die menschliche Hand unterscheidet sich von der des Affen darin, dass wir im Daumensattelgelenk den Daumen den Fingern gegenüber stellen können. Dieser so genannte Oppositionsgriff ermöglicht uns den Gebrauch von Werkzeugen – sowohl für grobe als auch für ausgesprochen feine Arbeiten. Die Hand ist Werkzeug des menschlichen Geistes.
Es gibt Evolutionstheoretiker, die die Entwicklung des menschlichen Gehirns als von der Anatomie der Hand abhängig erklären: Als unsere Vorfahren sich vor etwa zwei bis vier Millionen Jahren auf die Füße stellten und fürderhin aufrechten Ganges durch die Savanne streiften, konnte sich die Hand, befreit von der Aufgabe der Fortbewegung, komplizierte Greif- und andere Bewegungen zu eigen machen. Dadurch, so wird geschlussfolgert, habe die Hand entscheidend die Ausformung des Gehirns und die Grundzüge unserer Intelligenz beeinflusst.
Mystische Zeichen und Linien
Die Kulturgeschichte des Menschen ist eng mit der Hand verknüpft: Schon in der Höhlenmalerei unserer Urahnen spielen Abdrücke von Händen eine große Rolle. Diese Mystik, die einer Hand innewohnt, hat sich bis heute erhalten: Chiromantiker gehen davon aus, in den Linien einer Hand den Menschen und sein Leben erkennen zu können. Daran mag man glauben oder nicht: Einen forschenden, vielleicht auch bangen Blick auf seine Lebens- und die Schicksalslinie hat wohl jeder schon einmal geworfen.
Sprechende Hände
Die Hand als Werkzeug des Geistes – das betrifft nicht nur die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns. Der Geist bedient sich der Hand, um sich verständlich zu machen. Der Mensch verfügt über ein schier unerschöpfliches Spektrum von Gesten und Handhaltungen.
Rituell festgelegte Handbewegungen – etwa in der Kirche – sind ebenso Bestandteil der menschlichen Kommunikation wie zufällige Gesten, die das Gesagte unterstreichen, mehr oder weniger bewusste Botschaften übermitteln, manches Mal sogar direkter und unmissverständlicher als Worte.
Haben Sie schon einmal den Tanz der Finger beobachtet, der aufgeführt wird, wenn gehörlose Menschen sich unterhalten? Vielleicht ist diese Gebärdensprache sogar ausdrucksstärker und symbolträchtiger als das gesprochene Wort, weil sie Bedeutungen direkt aus der Luft greift, sie also Gedanken einen materiell sichtbaren Körper verleiht, wenn auch einen, der sich unserem Blick im Moment seiner Geburt wieder entzieht. Blinde können mit ihren Händen Braille-Schrift lesen.
Handarbeit ist wertvoll
Gut ist, was von Hand gemacht ist. Und wenn es Hand und Fuß hat. Will ein Mann einer Frau einen Antrag machen, bittet er sie um ihre Hand. Hand aufs Herz: Das ist noch immer eine der romantischsten Handlungen, die wir uns vorstellen können.