Bessere Erholung nach Mehrfachverletzungen
Die Trauma-Immunologie untersucht deshalb, warum das Immunsystem bei schweren Verletzungen schnell über das Ziel hinausschießt, was die Überlebenschancen fördert und wie sich Unfallopfer schneller und besser erholen können.
In Deutschland sorgt ein Netzwerk aus regionalen und überregionalen Traumazentren für die flächendeckende Versorgung von Schwerverletzten. Wer hierzulande in den ersten Stunden nach einem Unfall stirbt, hat in der Regel eine Verletzung, die mit dem Leben nicht vereinbar ist, etwa einen längeren Atemstillstand, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder eine schwere innere oder äußere Blutung. Wer in den Tagen und Wochen nach dem Unfall stirbt, wird oftmals Opfer seines fehlgesteuerten Immunsystems.
„Der gewaltige, durch die schweren Verletzungen ausgelöste Alarmzustand und die sofortige Operation, die eine zusätzliche Verletzung darstellt, sowie die fehlende Balance aus Angriff und Mäßigung begünstigen eine Fehlregulation des Immunsystems“, erklärt Professor Dr. med. Mario Perl. „Diese ähnelt einer Sepsis, bei der Organe wegen einer systemischen Infektion versagen, ohne dass bei Schwerverletzten Bakterien im Spiel wären“. Professor Perl ist Direktor der Unfallchirurgischen und Orthopädischen Klinik am Universitätsklinikum Erlangen-Nürnberg und neben Dr. med. Johannes Flechtenmacher von der Praxis Ludwigsplatz – Ortho-Zentrum Karlsruhe.
„Wir versuchen diese Eskalationen zu vermeiden, indem wir bei einem Polytrauma zunächst nur die Verletzungen operieren, die unbedingt operiert werden müssen. Alle anderen Verletzungen werden erst einmal durch externe Systeme stabilisiert und ein paar Tage später operiert, wenn sich das Immunsystem wieder beruhigt hat und das Operationstrauma besser verkraftet werden kann“, erklärt Professor Perl. Es ist ein ständiges Abwägen zwischen dem, was dem Immunsystem gerade zugemutet werden kann und den notwendigen Behandlungsschritten.“
Was bestimmt die Überlebenschancen?
Bei einem Unfall verlieren Zellen und Gewebe im wahrsten Sinne des Wortes ihre Begrenzungen. Das Freiwerden des Zellinhalts ist der Grund für die direkte und massive Aktivierung des Immunsystems. Die schwere Entzündungsreaktion und die möglichen Organschäden, die sich daraus ergeben, wirken sich unmittelbar auf die Prognose und die Überlebenschancen der Unfallopfer aus. Es hat bislang nicht genügt nur einzelne Schritte der Entzündung einzudämmen, für eine gute Erholung ist offensichtlich ein grundsätzlicheres Eingreifen in das Entzündungsgeschehen notwendig.
Professorin Dr. med. Miriam Kalbitz, berufene Professorin für Trauma-Immunologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Oberärztin in der Unfallchirurgischen und Orthopädischen Klinik am Universitätsklinikum Erlangen will verstehen, wie sich das erreichen lässt. Dabei hat sie eine interessante Entdeckung gemacht: „Viele Verletzte entwickeln nach dem Unfall eine Schädigung des Herzens“, sagt sie. „Nicht nur diejenigen, deren Brustkorb massiv verletzt wurde, sondern auch Schwerverletzte mit instabilem Kreislauf oder anderen schweren Verletzungen. Wir konnten zeigen, dass das durch die Verletzungen angestachelte Komplementsystem die Zellen des Herzens schädigt und dass diese Schädigung umso größer ist, je invasiver eine Fraktur versorgt wird. Die Art der Frakturstabilisierung hat also einen Einfluss auf den klinischen Verlauf und damit die Erholung der Unfallopfer“.
Das Komplementsystem ist ein zentraler Arm des Immunsystems. Es markiert in einer sorgfältig kontrollierten Kettenreaktion defekte Zellen und Bakterien und lässt sie beseitigen. „Durch die enge Verzahnung von Forschung und Klinik profitieren Verletzte am Universitätsklinikum Erlangen bereits heute von den neuesten Erkenntnissen und Ergebnissen“, sagt Professorin Kalbitz. „Wenn man davon ausgeht, dass weltweit jährlich 20 bis 30 Prozent der Schwerverletzen an systemischen Entzündungen sterben, könnte die Entwicklung einer individualisierten Therapie ein bahnbrechender Erfolg sein“.
Als Klinikchef plädiert Professor Perl auch für eine auskömmliche Finanzierung der Traumazentren, deren Betrieb an hohe Hürden gebunden ist und erhebliche Personal-, Material- und Vorhaltekosten verschlingt. „Für die Kliniken werden die Traumazentren immer mehr zur Kostenfalle“, sagt er. „Statt weiter an der Spirale aus Anforderungen und Kosten zu drehen, brauchen wir eine ausreichende Finanzierung“.
Quelle: VSOU-Pressestelle