Beinlängendifferenz / Beckentiefstand
Beinlängendifferenz ist der direkt oder indirekt gemessene Längenunterschied der Beine. Dieser äußert sich in einer tatsächlichen Verkürzung oder Verlängerung einzelner Abschnitte der Knochen und Gelenke oder funktionell durch eine Verkürzung von Muskeln, Sehnen und Bändern (sogenannte Kontrakturen). Die Ursachen sind vielfältig, die Folgen Fehlstatik, Gelenkveränderungen, bisweilen akute und chronische Schmerzen.
Häufigkeit
Über ein Drittel aller Menschen weisen Beinlängendifferenzen unter 1,0 cm auf. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob solche geringen Längenunterschiede bereits als Krankheit eingestuft werden sollten. Längenunterschiede über 1 cm im Kindes- und Erwachsenenalter können erhebliche Langzeitfolgen für die Zentrierung und Entwicklung der Beingelenke, des Beckens und der Wirbelsäule haben und Mitursache für akute und chronische Schmerzen, asymmetrische Anpassungen der Bewegungsorgane, Nerven, Muskeln, Sehnen und Faszien sowie für Arthrosen sein. Im konkreten Einzelfall ist fachärztlich unter Berücksichtigung aller Befunde zu entscheiden, ob einem geringen Längenunterschied ein Krankheitswert zukommt und ein Ausgleich erforderlich und möglich ist (Abb. 1 und 2). Neben dem dauerhaft bestehenden strukturellen Beinlängenunterschied aufgrund unterschiedlicher Knochen- und Gelenklängen oder Kontrakturen kommt es häufiger auch zu einer variablen funktionellen Beinlängendifferenz, die auf vorübergehende „Gelenkblockierungen“ zurückgeführt wird und mithilfe von Manual- und Bewegungstherapie behandelt werden kann.
Ursachen und Risikofaktoren
Beinlängenunterschiede sind selten angeboren (zum Beispiel: Hemiatrophie, A-, Hypo-, Dysplasie, partieller Riesenwuchs, Gefäßanomalien, Exostosenkrankheit, Klumpfuß) (Abb. 3-6). Häufiger sind sie erworben (zum Beispiel durch Infektionen, Lähmungen, Unfälle, Frakturen, Tumoren, Aufbaustörungen oder Strahlenschäden im Wachstum, langzeitige Ruhigstellung, einseitige Belastung oder Fehlhaltung, Achsenfehler, Kontrakturen) (Abb. 7 und 8). Achsenfehlstellungen der Beine (zum Beispiel X- oder O-Beine) können aus geometrischen Gründen zu unterschiedlichen Längen der Beine führen, besonders wenn diese Achsenfehlstellungen einseitig oder beidseits sehr unterschiedlich sind. Festzustellen ist, ob das Becken und die Basis der Wirbelsäule, das Kreuzbein, im ebenerdigen Stand und beim üblichen Gehen in der Frontalebene durchschnittlich waagrecht eingestellt sind und ob Becken, Wirbelsäule und Hüftgelenke sowie die Knie- und Fußgelenke dynamisch zentriert bewegt werden können. Nach Frakturen im Wachstumsalter können durch Schädigung der knorpeligen Wachstumsfugen der gebrochenen Knochen oder durch übermäßiges Längenwachstum unterschiedliche Beinlängen entstehen, aber auch spontan ausgeglichen werden. Nach Wachstumsabschluss ist nicht mehr mit einer spontanen Korrektur unterschiedlicher Beinlängen zu rechnen, sondern mit einem Fortschreiten der gewohnheitsmäßigen Anpassungen der Wirbelsäule und Gelenke.
Symptome und Verlauf
Achsenfehlstellungen der Beine, übermäßige X- und O-Beine, gelegentlich auch Vor- oder Rückverbiegungen der Ober- oder Unterschenkel, stechen ins Auge und führen zur Vorstellung beim Facharzt für Orthopädie. Unterschiede in der Beinlänge fallen weniger auf, eventuell durch Hinken, einseitiges oder asymmetrisches Gangbild und „eine schiefe Hüfte oder Wirbelsäule“. Geringe Längendifferenzen werden von den Betroffenen kaum bemerkt, allenfalls beim Kleidungskauf, wenn immer ein Hosenbein zu lang oder zu kurz ist, oder der Rocksaum korrigiert werden muss. Langfristig kommt es bei Beinlängendifferenzen zu ausgleichenden Anpassungen der Gelenke der Beine, des Beckens und der Wirbelsäule, zunächst zu einer Ausgleichsschwingung und durch Wachstum und Anpassung später dann zu einer Skoliose mit struktureller Rotationskomponente (Abb. 1 und 2). Bei relevantem Längenunterschied der Beine ist frühzeitig ein konsequenter Längenausgleich durch Schuhzurichtung, Einlage, Orthese oder Operation sicherzustellen, da sich bereits eingetretenes Fehlwachstum (besonders Rotationsfehler) durch verspäteten Ausgleich nicht oder nur geringfügig rückbildet. Während der spontanen Anpassungsprozesse an den Beinlängenunterschied können durch einseitige Be- und Überlastung Gelenk- und Weichteilbeschwerden und Rückenschmerzen auftreten. Durch die statische und dynamische Asymmetrie der Bewegung und Belastung wird ein vorzeitiger Verschleiß der Gelenkflächen, Bindegewebsstrukturen und auch der Bandscheiben begünstigt.
Diagnose
Wichtig ist das frühzeitige Erkennen einer Beinlängendifferenz, von Achsenfehlern der Beine, eines Becken- bzw. Sakralbasisschiefstandes und einer „schiefen“ Wirbelsäule durch Eltern, Erzieher, den Kinder- und Jugendarzt im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen sowie bei Erwachsenen durch den Hausarzt. Anschließend wird die Beinlängendifferenz von einem orthopädischen Facharzt mittels einer klinischen und gegebenenfalls apparativen Messung abgeklärt und der konkrete Therapiebedarf und Therapieplan unter Berücksichtigung aller vorliegenden und notwendigen Befunde festgelegt.
Beinlängenmessung
Die klinische direkte Messung mit dem Schneidermaßband in mittiger Rückenlage von der Spitze des Sprunggelenkaußenknöchels zum gleichseitigen vorderen Darmbeinstachel am Becken (spina iliaca anterior superior) ist nur ungenau und grob orientierend, da Lagerung, Beinachsen und Gelenkstellungen nicht exakt kontrolliert werden können. Die Längen der verschiedenen Abschnitte des Beines – Fuß, Unterschenkel, Oberschenkel und Becken – können auch getrennt ausgemessen werden.
In der Praxis wird ein Beinlängenunterschied indirekt durch die klinische Überprüfung des Geradstands des Beckens bzw. des Kreuzbeines, das den Beckenring hinten am Rücken schließt im ebenerdigen Barfußstand ausgeschlossen (Abb. 2 und 3). Asymmetrien des Beckens, Beckenverdrehungen bei seitenunterschiedlich ausgebildeten Knochenanteilen oder vorübergehende Blockierungen der Kreuz-Darmbein-Gelenke (Sakroiliakalgelenke) bzw. bestimmter Abschnitte der Lendenwirbelsäule (distale lumbale Bewegungssegmente), Anomalien und Deformitäten der Wirbelsäule (Skoliosen) erschweren die klinische Prüfung des Beckengradstandes.
Die apparative Messung der Beinlänge kann nach Markierung der Gelenkhöhen mit Ultraschall mithilfe eines kalibrierten Maßstabes abschnittsweise erfolgen. Alternativ ist die Messung auch – präziser und unter Dokumentation der Beinachsen, allerdings mit Strahlenbelastung – durch konventionelle Röntgenaufnahmen mit Maßstab oder mittels Computertomogramm (CT) bzw. EOS Röntgenscan möglich. In der Praxis hat sich die Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule (LWS) im Stand mit gleicher Belastung beider Beine bewährt, um einen Schiefstand der Kreuzbeinbasis und damit eine hierfür relevante Beinlängendifferenz bzw. eine lumbosakrale Skoliose (d.h. eine seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule im Lendenwirbel-Kreuzbein-Bereich) auszuschließen (Abb. 9).
Therapie und Nachsorge
Patienten können durch eine regelmäßige Ganzkörper-Sichtkontrolle vor dem eigenen Spiegel und eine Beurteilung der Beinachsen, der eigenen Haltung, der lotrechten Einstellung des Beckens sowie der Wirbelsäule und des Kopfes / Gesichts ihre Beine und den Körper auf seitliche Abweichungen überprüfen. Bei begründetem Verdacht auf Beinlängenunterschied oder Beckenschiefstand / schiefe Wirbelsäule, oder falls regelmäßig Hosenbeine, Röcke oder Kleider seitendifferent angepasst werden müssen, wird empfohlen, ärztlichen Rat einzuholen. Sollte eine strukturelle Beinlängendifferenz aus fachärztlicher Sicht ausgeglichen werden müssen, so ist für diesen Ausgleich konsequent und langfristig ein ausreichend erhöhter anatomiegerechter Schuh zu tragen, auch zuhause und in der Freizeit. Gelegentliche fachärztliche Kontrollen, ob und in welcher Höhe ein Längenausgleich notwendig ist, sind nach Maßgabe des Arztes erforderlich, im Wachstums-, Schul- und Jugendalter häufiger als nach Wachstumsabschluss.
Konnte die Beinlänge mithilfe orthopädischer Schuhzurichtung ausgeglichen und die Statik zentriert werden, ist regelmäßiger, gleichgewichts- und geschicklichkeitsorientierter Ausgleichssport, alleine und in Gruppe oder im Verein anzuraten. So können einseitige Verhaltensweisen und Belastungen im Beruf und in der Freizeit ausgeglichen und einer weiteren gewohnheitsmäßigen Dezentrierung der Beingelenke, des Beckens und der Wirbelsäule entgegengewirkt werden.
Literatur und weiterführende Links
Hefti, F.: Kinderorthopädie in der Praxis. Berlin: Springer Verlag, 2015.
Niethard, F. U.: Kinderorthopädie. Stuttgart: Thieme Verlag, 2010.
Pfeil, J. / Grill, F. / Graf, R.: Extremitätenverlängerung. Berlin: Springer Verlag, 1996.
Stücker, R. / Hasler, C. (Hrsg.): Die wachsende Wirbelsäule. Berlin: DeGruyter Verlag, 2017.
Wirth, C. J. / Mutschler, W. / Kohn, D. / Polemann, T.: Praxis der Orthopädie und Unfallchirurgie. Stuttgart: Thieme Verlag, 2014.