Sitzen ist das neue Rauchen - Teil 6: Gesellschaftliche Herausforderung
Die Studienergebnisse sind alarmierend. In Deutschland wird immer mehr gesessen, mit ungünstigen Auswirkungen auf Lebensqualität und Lebenserwartung. Wenn sich die Gesellschaft nicht bald dieser negativen Entwicklung bewusst wird und keine Gegenmaßnahmen unterstützt oder propagiert, werden Arbeitsunfähigkeitszeiten und Krankheitskosten deutlich ansteigen. Es werden Probleme auf persönlicher, wirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene entstehen.
Auch wenn wir die Optimierung des Sitz-Arbeitsplatzes angesprochen haben, so wird es sich nicht vermeiden lassen, dass bei der Arbeit gesessen werden muss. Wichtig ist, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihrer Verantwortung bewusst sind und alle Maßnahmen ausschöpfen, um das Sitzen bequemer und dynamischer zu machen, damit die Arbeitskraft der Mitarbeiter erhalten bleibt. Es sind aber nicht nur Betriebe und Behörden in der Verantwortung, sie beginnt bereits in der Schule. Politiker müssen begreifen, dass sich gesundheitliche Schäden – besonders Wirbelsäulen- und Haltungsprobleme -, die in der Schulzeit beginnen, oft zeitlebens bestehen bleiben und durch Ausfallzeiten und Behandlungskosten Wirtschaft und Gesundheitssystem enorm und dauerhaft belasten.
Kinder und Jugendliche benötigen individuell einstellbare Sitz- und Tischmöbel sowohl in der Schule als auch Zuhause. Sie anzuschaffen, ist eine Investition in die Zukunft. Ihnen muss frühzeitig vermittelt werden, wie sie ihren Arbeitsplatz ergonomisch korrekt anpassen. Außerdem muss für einen körperlichen Ausgleich zum Sitzen gesorgt werden. Nach spätestens zwei Unterrichts- oder Lernstunden sollten Fünf-Minuten-Pausen eingerichtet werden, in denen sich Schüler und Lehrer bewegen und gemeinsam Lockerungs- und Entspannungsübungen machen. Studien belegen, dass dadurch Konzentration und andere Hirnleistungen verbessert werden und das Lernen leichter fällt. Aber das reicht noch nicht. Je mehr gesessen wird, desto größere Bedeutung bekommen die Schulsportstunden. Kindern- und Jugendlichen muss die Freude an Bewegung vermittelt werden, und sie müssen selbst am eigenen Körper spüren, dass ihnen der aktive Ausgleich zum Sitzen guttut. Zu fordern sind mindestens drei Schulsportstunden an zwei Tagen, in denen nicht nur der Leistungsgedanke im Vordergrund steht, sondern auch Gesundheitsprävention gelehrt wird. Es versuchen bereits Nachbarländer Deutschlands, an jedem Schultag eine Sportstunde einzurichten, da sie deren Bedeutung erkannt haben.
Was man in jungen Jahren zu schätzen gelernt hat, wird man gerne beibehalten. Ganz gleich, ob man nach einem Schulabschluss studiert oder eine Lehre bzw. eine Ausbildung macht, man wird immer bei sitzender oder körperlich einseitiger/eintöniger Tätigkeit einen aktiven Ausgleich benötigen. Die positiven Effekte sportlicher Betätigung sind durch Studien belegt. Auch Betriebe und Behörden sind aufgerufen, ihren Beschäftigten Möglichkeiten zur aktiven Pausengestaltung anzubieten. Es muss in der Gesellschaft ankommen, dass jeder Betroffene mit sitzender Tätigkeit für sein eigenes Wohlbefinden körperlichen Ausgleich braucht. Dies sollte zu einer Selbstverständlichkeit werden. Im Alltag muss man sich die Freiräume für Bewegung schaffen, am besten in einem festen Terminrahmen. Leichter fällt es, wenn man sportliche Aktivitäten gemeinsam mit einem Partner oder in einer Gruppe macht. Gleichgesinnte können sich viel besser gegenseitig dazu motivieren.
Technische Entwicklungen und Digitalisierung werden in Zukunft Teile der Arbeitswelt und damit auch das Sitzen verändern. Hat man früher noch aufstehen und zum Regal gehen müssen, um Unterlagen in einem Ordner nachzuschlagen, kann man heute oder in Zukunft sitzen bleiben, weil alle Dokumente per Computer abrufbar sind. Designer auf der ganzen Welt feilen an innovativen Sitzmöbeln. Es wird aber immer so sein, dass ein Bewegungsausgleich stattfinden muss. Um das zu erreichen, darf in alle Richtungen gedacht werden. Praktische Lösungen müssen insbesondere für Betriebe und Behörden gefunden werden. Eine Anregung kann die Einrichtung eines „Bewegungsraumes“ sein, durch den jeder Mitarbeiter mittags auf dem Weg zur Kantine kommen muss. An einfachen Geräten kann in normaler Kleidung die Wirbelsäule mobilisiert und gedehnt werden. Geräte für die Arme und die Beine runden ein Kurzprogramm ab, das nicht länger als fünf Minuten sein muss. Anschließend belohnt man sich mit dem Mittagessen.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass wir – besonders durch die Corona-Zeit – immer mehr Stunden des Tages sitzen und dadurch gesundheitliche Probleme entstehen, die unsere Lebensqualität und Lebenserwartung einschränken. Dies ist durch Untersuchungen belegt. Andere Studien zeigen, dass wir durch Bewegung einen Ausgleich erreichen können. Die Voraussetzungen dazu müssen gesellschaftlich und politisch gewollt sein und geschaffen werden. Schulen, Hochschulen, Arbeitgeber und Behörden sind in der Pflicht, ergonomische Arbeitsplätze bereitzustellen. Die individuellen Einstellungen von Stühlen, Tischen und Bildschirmen, die Gestaltung von Pausenzeiten mit aktiven Bewegungsübungen und das stündliche Aufstehen vom Stuhl müssen die Betroffenen selbst umsetzen. Jede Stunde weniger sitzen bringt gesundheitliche Vorteile. Wenn das gesellschaftlich anerkannt wird, kann man hoffen, dass ähnliche Kampagnen gegen zu viel Sitzen erfolgen, wie sie auch gegen das Rauchen durchgeführt wurden und werden.
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ORTHOPÄDIE VERSTEHEN, Herausgeber: BoD – Books on Demand, ISBN: 978-3-7534-8003-9, Autor: Dr. med. Jürgen Kosel, 546 Seiten, Preis: 38,80 €
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