Sitzen ist das neue Rauchen - Teil 4: Die Risikogruppen

In der Serie "Sitzen ist das neue Rauchen" zeigt Ihnen Dr. med. Jürgen Kosel (Orthopäde und Diplom-Sportlehrer) zu welchen Problemen übermäßiges und falsches Sitzen führt, warum sich die Sitzdauer stetig erhöht, wer betroffen ist und was Sie dagegen tun sollten. Es drohen nicht nur orthopädische Probleme, es werden auch innere Organe und deren Funktionen belastet.
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Den Report der Deutschen Sporthochschule Köln und der DKV aus dem Jahr 2023 hatte ich bereits zitiert. Demnach wird an jedem Werktag durchschnittlich über neun Stunden (554 Minuten) gesessen. Rund drei Viertel der Menschen zwischen 18 und 29 Jahren sitzt sogar durchschnittlich über zehn Stunden (621 Minuten). Betroffen sind vor allem Büroangestellte, aber auch Berufsfahrer, Studenten usw. Die meiste Zeit wird im Büro mit Arbeiten am Computer verbracht. Jeder Betrieb und jede Behörde hat einen Betriebsarzt, der für eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung zuständig ist. Ziel ist, ungünstige gesundheitliche Folgen durch schlechte Arbeitsbedingungen zu minimieren. Jeder Arbeitsplatz sollte so individuell wie möglich auf die persönlichen Gegebenheiten des Nutzers zugerichtet sein. Dazu gehören nicht nur die körperlichen Bedingungen wie Körpergröße und -gewicht, sondern besonders die Proportionen zwischen Rumpf und Extremitäten, die sich bei Frauen und Männern oft deutlich unterscheiden. Bei gleicher Körperlänge haben Frauen meist längere Beine und einen kürzeren Oberkörper als Männer. Dadurch unterscheidet sich die optimale Einstellung von Sitz-, Tisch- und Bildschirmhöhe.

Mal ehrlich: Wer hat zu Beginn einer neuen Stelle eine Einweisung zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung erhalten? Und wurden dabei nicht nur die körperlichen Maße berücksichtigt, sondern vom Betriebsarzt auch Vorerkrankungen wie beispielsweise Rückenprobleme oder innere Erkrankungen?

Es kann sein, dass Diabetiker zusätzliche Pausen benötigen, um ihren Blutzucker zu messen und ggf. eine Zwischenmahlzeit zu sich zu nehmen. Bei Durchblutungsstörungen an den Beinen kann das Tragen von Kompressionsstrümpfen notwendig werden, usw. Das Lesen eines Textes ist am PC-Bildschirm anstrengender als auf einem Blatt Papier. Die Augen blinzeln weniger, wodurch weniger Tränenflüssigkeit verteilt wird und die Augen trocken und müde werden. Es kann Juckreiz auftreten, dem oft mit Augenreiben begegnet wird. Inzwischen gibt es eine englische Bezeichnung für die Augenüberlastung am PC, das Computer Vision Syndrom. Wenn die ersten Symptome auftreten, sollte in die Ferne geblickt werden, um die Augenmuskeln zu entlasten. Eine spezielle PC-Brille kann hilfreich sein. Und wenn man das Bedürfnis hat, seine juckenden Augen zu reiben, sollte man dies in Fließrichtung des Tränenfilms tun. Die Tränendrüse befindet sich am oberen äußeren Augenwinkel und der Abflusskanal unten innen an der Nase. Die Richtung korrekten und vorsichtigen Reibens mit wenig Druck sollte also von oben außen nach unten innen sein.

Sitzende Büroarbeit ist motorisch nicht anspruchsvoll, erfordert aber meist hohe Konzentration und Denkarbeit. Das Gehirn verbraucht Energie in Form von Glukose. Bei entsprechender Beanspruchung steigt der Heißhunger auf Süßes: Das Gehirn will Zucker haben. Wer dem mit ungesunden Kohlenhydraten nachgibt, riskiert auf Dauer Übergewicht und erhöht das Risiko für Diabetes mellitus. Sinnvolle Nahrungsmittel fürs Gehirn sind sog. Brainfood-Lebensmittel wie Beeren, Nüsse, Samen, grünes Blattgemüse, fettreiche Fische, Vollkornprodukte und dunkle Schokolade. Bei einer Heißhungerattacke auf Süßes kann ein Glas Wasser (Zimmertemperatur) hilfreich sein. Man kann sich vorbereiten und Lebensmittel mit Bitterstoffen (vermindern das Hungergefühl) wie Grapefruit und Oliven oder Nüsse und Kerne mit ins Büro nehmen und zwischendurch essen.

Ähnliche Probleme wie Büroangestellte hat die Kinder- und Jugendgeneration. Sie muss nicht nur in der Schule sitzen, sondern sitzt zusätzlich freiwillig in der Freizeit, um am Handy, Tablet, Laptop oder PC zu spielen oder Social Media-Aktivitäten nachzugehen. Auf Klassenfotos wird meist deutlich, dass - besonders in der Grundschule und später in der Pubertät – erhebliche Größenunterschiede bei den Schülerinnen und Schülern bestehen. Trotzdem müssen sie in der Regel alle auf den gleichen Stühlen an den gleichen Tischen sitzen. Nur wenige Schulen haben in höhenverstellbare Stühle und Tische investiert, damit das Sitzen bequem ist. Die Kombination nachlassender Bewegungserfahrung mit daraus resultierender Rumpfschwäche und langem Sitzen führt zu immer mehr Haltungsfehlern und Rückenschmerzen bereits in der Schülergeneration. Die Besuche bei Orthopäden werden häufiger und haben oft Verordnungen für physiotherapeutische Behandlungen zur Folge. Damit muss das Gesundheitssystem auffangen, was die Schulen versäumen. Und die Situation wird nicht besser, wenn Schulsportstunden reduziert oder ganz gestrichen werden.

Die negativen Auswirkungen betreffen nicht nur den Haltungs- und Bewegungsapparat, sondern auch innere Organe. Inzwischen entwickeln mehr als ein Drittel der neu diagnostizierten Jugendlichen nach Einsetzen der Pubertät eine Typ 2-Blutzuckerkrankheit (Diabetes mellitus) wie bei Erwachsenen. Die Ursachen sind meist fehlende körperliche Betätigung und Übergewicht. Vor 30 Jahren hatten mehr als 95 % aller Kinder und Jugendlichen mit einer Blutzuckererkrankung einen Typ 1-Diabetes. Die Steigerung von Typ 2-Diabetes bei unseren Schulkindern von 5 % auf über 30 % innerhalb einer Generation sollte alarmierend sein. Und die Tendenz zeigt weiter nach oben. Es ist schul- und gesundheitspolitisch dringend ein Umdenken erforderlich. Werden keine Gegenmaßnahmen ergriffen, wird die nächste Generation durch zu viel Sitzen zunehmend gesundheitliche Probleme bekommen. Als Folgen sind zu erwarten: (Rücken-) Schmerzen, verminderte Lebensqualität und steigende Kosten im Gesundheitssektor. Und die Fortschritte der Medizin mit Erhöhung der Lebenserwartung werden durch zu viel Sitzen und mit Übergewicht und seinen Folgen verspielt.

In Teil 5 werden Lösungen und Alternativen vorgestellt und diskutiert.

Weitere interssante Infomationen finden Sie in dem Buch „ORTHOPÄDIE VERSTEHEN“ von Herrn Dr. med. Jürgen Kosel.

Informationen zum Buch

ORTHOPÄDIE VERSTEHEN, Herausgeber: BoD – Books on Demand, ISBN: 978-3-7534-8003-9, Autor: Dr. med. Jürgen Kosel, 546 Seiten, Preis: 38,80 €

Link zur Webseite des Buches mit weiteren Informationen und Leseproben.

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Ärzte mit der Spezialisierung Rücken und Wirbelsäule in der Umgebung von Ashburn

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