Sitzen ist das neue Rauchen - Teil 3: Warum wir immer länger sitzen

In der Serie "Sitzen ist das neue Rauchen" zeigt Ihnen Dr. med. Jürgen Kosel (Orthopäde und Diplom-Sportlehrer) zu welchen Problemen übermäßiges und falsches Sitzen führt, warum sich die Sitzdauer stetig erhöht, wer betroffen ist und was Sie dagegen tun sollten. Es drohen nicht nur orthopädische Probleme, es werden auch innere Organe und deren Funktionen belastet.
©fizkes - stock.adobe.com

Die Menschheit entwickelte sich vor über 2 Millionen Jahren. Die ersten Menschen waren Jäger und Sammler. Sie jagten Tiere und sammelten Nahrung im Wald. Um Wasser und Beute zu suchen, zogen sie als Nomaden umher. Die Zeit, sich an einem Ort niederzulassen, liegt etwa 12.000 Jahre zurück. Sie lernten und entwickelten Ackerbau und Viehzucht und bauten sich erste Behausungen. Das tägliche Leben bestand in körperlicher Arbeit, seit 5.500 Jahren zunehmend auch unter Einbeziehung von Pferden und Ochsen als Nutz- und Zugtiere. In der Jungsteinzeit (um 10.000 v. Chr.) wurden die ersten drei- und vierbeinigen Hocker hergestellt.

Vor etwa 5.000 Jahren wurde daraus mit Sitzfläche und Rückenlehne der Thron für Fürsten, Könige und Kaiser. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veränderten sich für die Menschen durch Erfindungen und technische Innovationen Arbeitsweisen und Produktionstechniken. Es begann das Zeitalter der industriellen Revolution. Maschinen wie die Dampfmaschine oder Baumwollspinnmaschine wurden eingesetzt und führten zur Massenproduktion. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse veränderten sich tiefgreifend und dauerhaft. Maschinen nahmen den Menschen einerseits immer mehr Arbeit ab, andererseits wurden die Arbeitsbedingungen durch Wiederholung der immer gleichen Abläufe monoton mit der Folge, dass der Körper einseitig überbelastet wird, während andere Muskelgruppen unterfordert sind und verkümmern. Monotonie führt eher zu einer mentalen und körperlichen Ermüdung als Tätigkeiten mit ganzem Körpereinsatz. Alternativ findet gar keine körperliche Arbeit mehr statt, da der Mensch Maschinen kontrolliert und überwacht, und das meistens im Sitzen.

Die durchschnittliche tägliche Sitzdauer hat sich in den letzten 200 Jahren kontinuierlich erhöht. Viele Erfindungen erleichtern Tätigkeiten im Beruf und im Alltag und machen unser Leben bequemer. Und darunter verstehen wir, dass uns immer mehr Aktivitäten abgenommen werden. Landwirte gehen nicht mehr hinter einem Pflug her, sondern sitzen auf Traktoren; wir nehmen Rolltreppen und Aufzüge, statt Treppen zu nutzen; und wir sitzen in Autos, Bussen, Bahnen und Büros. Mehr und mehr Menschen sind nicht mehr körperlich aktiv in der Produktion beschäftigt, sondern arbeiten körperlich passiv in Dienstleistungsberufen mit überwiegend sitzender Tätigkeit. Durch technische und medizinische Fortschritte haben sich Lebensqualität und Lebenserwartung in Europa verbessert. Die Menschen wurden im 18. und 19. Jahrhundert meist zwischen 40 und 50 Jahre alt. Aufgrund einer hohen Kindersterblichkeitsrate lag die durchschnittliche Lebenserwartung während der industriellen Revolution unter 35 Jahre. In Deutschland wurde in den 1930er Jahren eine durchschnittliche Lebenserwartung von 60 Jahren (Männer 59,9 und Frauen 62,8 Jahre) erreicht, 30 Jahre später von 70 Jahren (Männer 66,9 und Frauen 72,4 Jahre) und seit dem ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre um die 80 Jahre (Männer 77,2 und Frauen 82,4 Jahre). Seitdem hält sich dieses Niveau. Für die Zukunft droht eine Stagnation der Lebenserwartung oder sogar ein Rückgang.

Wir haben uns an die Annehmlichkeiten eines modernen Lebensstils gewöhnt und vergessen zu oft, dass der menschliche Körper mit seinen Muskeln und Gelenken bewegt werden will. Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang. Noch vor einer Generation spielten Kinder draußen, mit Bällen, Gummitwist, nachlaufen oder kletterten auf Bäume, konnten früh Radfahren und meist bei der Einschulung schwimmen. Vielfältige Bewegungserfahrungen entwickelten den Körper, und Bewegung machte Spaß. Heutzutage sind die motorischen Fähigkeiten von Erstklässlern erschreckend schlecht. Viele Kinder versagen beim Hüpfen auf einem Bein, können keinen Hopserlauf oder Hampelmann und mühen sich beim Purzelbaum ab. Nach Angaben der DLRG (Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft e.V.) haben aktuell 37 % der Jungen und Mädchen im Grundschulalter noch kein Schwimmabzeichen. Ihnen fehlen die Anreize für Bewegung, da sie viel zu früh mit Tablets, Laptops, Computern und Handys abgelenkt und ruhiggestellt werden. Es ist inzwischen zur Normalität geworden, dass Eltern bei einem Restaurantbesuch ihren Kindern die Nutzung elektronischer Geräte erlauben. Es kommen immer mehr Computerspiele auf den Markt, die nicht selten bei den Gamern Sucht und Abhängigkeit auslösen. Bewegungsarmut führt zu Übergewicht, erschreckenderweise bereits im Kindesalter, und als Erwachsene haben wir Deutschen es geschafft, dass wir die dicksten Menschen in Europa sind.

Die technischen Errungenschaften im Computerzeitalter behindern die Entwicklung motorischer Fähigkeiten und sozialer Kontakte. Immer mehr Kinder werden verhaltensauffällig, haben Probleme beim Lernen und mit der Konzentration und sind sportlich inaktiv. Dabei belegen Studien, dass regelmäßige Bewegung die Hirnleistungsfähigkeit verbessert. Bereits Kinder sitzen mehr als ein Drittel des Tages, in Schulen meist auf Stühlen und an Tischen, die den Proportionen der Schüler nicht entsprechen. Aber was soll man von einer Politik halten, die die Bedeutung des Schulsports nicht anerkennt? Die wöchentliche Stundenzahl im Fach Sport ist viel zu niedrig, und bei Lehrermangel ist es oft der Sportunterricht, der gestrichen wird. Hinzu kommt, dass Ganztagsunterricht die Teilnahme am Vereinssport erschwert. Es wächst derzeit eine Generation heran, deren motorische Fähigkeiten schlecht sind und die deshalb das viele Sitzen muskulär und haltungsmäßig nicht kompensieren kann. Sie ist aufgrund von Bequemlichkeit oft nicht bereit, selbst für Bewegungsausgleich zu sorgen. Der gesamtwirtschaftliche Schaden durch Krankheiten des Haltungs- und Bewegungsapparates mit Arbeitsausfällen wird zukünftig drastisch steigen. Aber auch psychische Faktoren dürfen nicht unterschätzt werden.

Es hat noch nie so viele Singlehaushalte gegeben wie aktuell. Dadurch fehlt ein Partner, mit dem man gemeinsam Sport machen kann oder der zu körperlicher Aktivität motiviert. Bereits junge Erwachsene verlangen als Berufsanfänger immer mehr nach einer Work-Life-Balance. Sie fühlen sich im Beruf gestresst und brauchen mehr Zeit für sich. Und was machen sie dann in ihrer Freizeit? Sie sitzen am Computer und spielen, was von Bewegungsaktivitäten ablenkt. Oft wird aus Langeweile einfach nur gechillt. Seit 2003 steht dieses Wort im Duden. Es bedeutet, dass man „dem Nichtstun frönt, faulenzt und sich ausruht.“ Wir sind momentan auf bestem Wege, die durch Medizin und Technik gestiegene Lebenserwartung sitzend und mit Übergewicht zu verspielen.

In Teil 4 beschäftigen wir uns näher mit den betroffenen (Berufs-) Gruppen.

Weitere interssante Infomationen finden Sie in dem Buch „ORTHOPÄDIE VERSTEHEN“ von Herrn Dr. med. Jürgen Kosel.

Informationen zum Buch

ORTHOPÄDIE VERSTEHEN, Herausgeber: BoD – Books on Demand, ISBN: 978-3-7534-8003-9, Autor: Dr. med. Jürgen Kosel, 546 Seiten, Preis: 38,80 €

Link zur Webseite des Buches mit weiteren Informationen und Leseproben.

Link zur direkten Bestellung im Buchshop des Verlags.

Ärzte mit der Spezialisierung Rücken und Wirbelsäule in der Umgebung von Ashburn

Passende Lexikonartikel

Der Rücken schmerzt oder beim Laufen piekst es im Fuß oder Knie?
Fragen Sie mich danach was ihre Beschwerde es sein könnte.
×
×

Dieser Chatbot liefert allgemeine Informationen und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.

Fehler: Ihr Standort konnte nicht ermittelt werden.

Leider konnten wir mit Hilfe des Browsers Ihren ungefähren Standort nicht ermitteln, weitere Informationen erhalten sie auf der Seite aktueller Standort.