Sitzen ist das neue Rauchen - Teil 2: Gesundheitliche Folgen langen Sitzens
In den letzten Jahren hat es viele Veröffentlichungen zu den Risiken sitzender Tätigkeiten gegeben, besonders durch die Corona-Zeit mit vermehrtem Homeoffice, bei dem mehr und länger gesessen wurde als üblicherweise im Büro. 2023 wurde ein Report der Deutschen Sporthochschule Köln und der DKV (Quelle https://www.dkv.com/downloads/DKV-Report-2023.pdf) veröffentlicht, nach der wir pro Werktag mit über neun Stunden (554 Minuten) täglichem Sitzen knapp 1,5 Stunden länger sitzen als noch 2018.
Dies betrifft mit 74 % besonders die Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren, die durchschnittlich über zehn Stunden (621 Minuten) sitzt. Bestätigt wurde außerdem, dass Menschen im Homeoffice kaum Bewegungspausen einlegen. Während Frauen etwa 8,5 Stunden Sitzdauer aufweisen, kommen Männer auf rund 10 Stunden werktäglich. Bereits 2012 ergab eine Studie, dass sich die Lebenserwartung durchschnittlich um bis zu zwei Jahre erhöht, wenn weniger als drei Stunden am Tag gesessen wird. Auf diese geringe Sitzzeit kommen z.B. Portugiesen, Brasilianer und Kolumbianer.
Im Sitzen ist der Druck auf den unteren Rücken um 90 % höher als im Stehen, was besonders die Bandscheiben belastet und zu Muskelverspannungen führt. Die Gründe dafür liegen in der Sitzdauer. Oftmals sitzen wir im Beruf weit mehr als zwei Stunden, ohne zwischendurch aufzustehen. Dadurch steigt der Druck im Gewebe besonders im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) und im Becken. Machen Sie folgenden Test: Drücken Sie mit einer Fingerkuppe (Daumen oder Zeigefinger) zehn Sekunden lang auf die Mitte des anderen Unterarmes (Streckseite). Was sehen Sie nach dem Loslassen? Die gedrückte Stelle ist weiß geworden. Sie haben das Blut aus den kleinen Blutgefäßen, den Kapillaren, herausgedrückt. Die weiße Stelle wurde nicht mehr durchblutet, die Zellen haben weder Nährstoffe noch Sauerstoff erhalten. Beim Sitzen passiert im Bereich der LWS und des Beckens das gleiche. Die Unterversorgung der Zellen und der Gewebe durch den Druck beim Sitzen hat zur Folge, dass das Milieu sauer wird und Muskelverspannungen sowie entzündliche Prozesse begünstigt werden.
Spätestens nach 1,5 bis 2 Stunden sollte man aufstehen und sich bewegen. Das gleiche gilt auch beim Autofahren. Aus medizinischer Sicht ist es sinnvoller, nach einer Fahrdauer von höchstens 2 Stunden eine kurze aktive Pause zu machen, als fünf oder mehr Stunden durchzufahren, um zehn Minuten früher ans Ziel zu kommen, aber anschließend eine Woche Rückenschmerzen zu haben. Wie kann man die aktive Pause sinnvoll gestalten? Nach dem Aufstehen vom Bürostuhl oder Autositz sollte man 20 bis 30 Meter gehen und anschließend zehnmal den „Skispringer“ machen: Aufrechter Stand mit lockeren Kniegelenken, beide Arme nach vorne ausstrecken, elastisch in die Hocke federn und gleichzeitig beide Arme nach hinten schwingen. Jetzt befindet man sich in der Hockstellung der Skispringer bei der Abfahrt von der Schanze. Aus dieser Position wieder in die Ausgangsstellung aufrichten und die ganze Übung flüssig hintereinander ausführen. Das elastische Federn fördert die Durchblutung besonders an der LWS und im Becken und sorgt für einen Nährstoff- und Sauerstoffaustausch. Danach fühlt sich der Rücken für die nächsten zwei Stunden wieder wohl.
Der Slogan „Sitzen ist das neue Rauchen“ stammt von Prof. James Levine, Endokrinologe und Ernährungsmediziner an der Mayo Clinic in Scottsdale, Arizona. Er postuliert, dass langes Sitzen unser Leben verkürzt und behauptet: Jede Stunde, die wir sitzen, kostet zwei Stunden Lebenszeit. Tatsächlich belegen Studien den Zusammenhang zwischen längerer Sitzdauer und geringerer Lebenserwartung. Ein doppelt so hohes Sterberisiko hat jemand, der mehr als 13 Stunden täglich sitzt, wie jemand, der weniger als elf Stunden am Tag sitzt. Sitzen erhöht die Wahrscheinlichkeit von Übergewicht und Fettsucht, Adipositas. In jeder Stunde, in der wir stehen anstatt zu sitzen, verbrennt unser Körper ca. 50 Kilokalorien mehr. Das entspricht etwa einer Orange, einem Pfirsich oder einem Glas Apfelsaft, was nicht viel erscheint, sich aber im Laufe eines Jahres aufsummiert. Rechenbeispiel: Ein Kilogramm Fettgewebe entspricht 9.300 kcal. Wer täglich zwei Stunden steht anstatt zu sitzen, verliert diese Kalorien in 93 Tagen, bzw. im Jahr vier Kilogramm Fett. Und das ohne irgendeine sportliche Betätigung.
Neben orthopädischen Problemen entwickeln sich häufiger Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel- und Krebs-Erkrankungen. Im Sitzen reduziert sich die Aktivität in den Beinen, was sich ungünstig auf den Stoffwechsel auswirkt. Der Kalorienverbrauch wird geringer und der Abbau von Blutfetten vermindert, das (gute) HDL-Cholesterin sinkt. Die Regulierung des Zuckerstoffwechsels verschlechtert sich, so dass das Risiko für eine Blutzuckererkrankung Diabetes mellitus Typ II steigt. Zudem stehen Bewegung und Hirnleistung in direktem Zusammenhang. Langes Sitzen kann das Risiko für Alzheimer erhöhen. Regelmäßige Bewegung verbessert nicht nur die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung im Gehirn, sondern auch die Konzentrations-, Lern- und Leistungsfähigkeit. Außerdem steigt beim Sitzen der Druck auf die Beckenorgane und den Beckenboden. Das ist bei Frauen ungünstig für die Gebärmutter, besonders nach Geburten, und für die Eierstöcke.
Bei Männern ist die Prostata betroffen, und es kann zu einer erektilen Dysfunktion kommen. Bei beiden Geschlechtern können sich durch langes Sitzen Hämorrhoiden entwickeln, die unangenehme Schmerzen im Analbereich verursachen. Dagegen helfen Bewegung und Übungen für den Beckenboden. In der nächsten Folge gehen wir der Frage nach, wie es dazu kommen konnte, dass wir Menschen so viel sitzen.
Warum wir immer länger sitzen, wird in Teil 3 erklärt.
Weitere interssante Infomationen finden Sie in dem Buch „ORTHOPÄDIE VERSTEHEN“ von Herrn Dr. med. Jürgen Kosel.
Informationen zum Buch
ORTHOPÄDIE VERSTEHEN, Herausgeber: BoD – Books on Demand, ISBN: 978-3-7534-8003-9, Autor: Dr. med. Jürgen Kosel, 546 Seiten, Preis: 38,80 €
Link zur Webseite des Buches mit weiteren Informationen und Leseproben.