Sitzen ist das neue Rauchen - Teil 1: Einleitung
Entwicklungsgeschichtlich hat sich der Mensch aus einem Vierfüßlergang zum Stehen und Gehen aufgerichtet. Dafür waren Anpassungsprozesse an den menschlichen Körper erforderlich, die die Evolution bis heute nicht abgeschlossen hat. Eine besondere Herausforderung stellten die Veränderungen an der Wirbelsäule dar. Unsere nächsten Verwandten im Tierreich, die Schimpansen, haben eine nach hinten gebogene Wirbelsäule. Damit können sie sehr gut auf allen vier Extremitäten laufen, sich aber nur kurzfristig aufrichten. Um das zu können, hat sich die menschliche Wirbelsäule in ihrer Form verändern müssen. Sie besteht von oben nach unten aus 7 Halswirbeln (HWS), 12 Brustwirbeln (BWS), 5 Lendenwirbeln (LWS), dem Kreuzbein und dem Steißbein.
An zwei der Abschnitte hat sich die Wirbelsäule im Laufe der Evolution nach vorne gebogen, nämlich an der Hals- und an der Lendenwirbelsäule. Man spricht von einer Hohlschwingung, fachlich: Lordose.
Die übrigen Wirbelsäulenabschnitte sind weiterhin nach hinten gebogen, fachlich: Kyphose. Dadurch hat die Wirbelsäule eine doppelte S-Form, mit der sie beim Gehen die Stoßbelastungen aus den Beinen elastisch abfedern kann. Ohne diese Funktion würden sich die Stöße bis in den Kopf fortsetzen und wir bekämen bei jedem Schritt eine Gehirnerschütterung. Wie außergewöhnlich sich Evolution den Bedürfnissen anpasst, zeigt beispielsweise die Halswirbelsäule der Giraffe. Auch sie besteht wie beim Menschen aus nur sieben Wirbeln. Da sich die Giraffe aber von Blättern in hohen Bäumen ernährt, hat sich jeder einzelne Halswirbel in seiner Höhe verlängert.
Die beim Menschen an den aufrechten Stand angepasste Wirbelsäule mit ihren wechselnden Schwingungen ist an den Übergangsstellen besonders gefährdet. Hier treffen anatomisch unterschiedlich gebaute Wirbelkörper mit ihren Quer- und Dornfortsätzen aufeinander. Jeder Wirbelsäulenabschnitt hat eine andere Funktion. Der Kopf ruht auf dem ersten Halswirbel, Atlas genannt, und kann in dieser Verbindung eine Nickbewegung ausführen. Der Atlas kann sich um einen senkrecht nach oben zeigenden Sporn (lateinisch Dens = Zahn genannt) des zweiten Halswirbels, dem Axis, drehen. Das gelingt im Idealfall nach links und nach rechts jeweils bis fast 90 Grad. Nick- und Drehbewegungen finden also in zwei verschiedenen Etagen der Halswirbelsäule statt. Um diesen Bereich nicht zu überlasten, sollte man das früher bei der Gymnastik sehr beliebte Kopfkreisen nicht machen. Es führt zu einem vorzeitigen Verschleiß der empfindlichen Kopfgelenke.
Der Übergang von der Hals- zur Brustwirbelsäule (HWS/BWS) bedeutet einen Wechsel von der Hohl- zur Rundschwingung. In diesem Bereich treten leicht Fehlbelastungen auf, die von einer schlechten Haltung herrühren. Wie oft sieht man Menschen, die ihren Kopf und ihre Schultern nach vorne ziehen, oftmals verursacht durch falsches Sitzen am Schreibtisch oder PC. Und diese Fehlhaltung wird zur Angewohnheit und kann zu Nackenverspannungen mit Kopfschmerzen, Muskelhartspann des Schultergürtels und zu Überlastungen der Wirbelgelenke und der Bandscheiben führen. Die Folgen sind Gelenkverschleiß und Bandscheibenschäden oder auch Kribbeln in den Armen.
Sie können sich mit einem einfachen Selbsttest überprüfen, vorausgesetzt, Sie haben keine Probleme in den Schultergelenken: Legen Sie sich flach und gestreckt auf eine plane und feste Unterlage, z.B. auf den Fußboden. Die Arme liegen seitlich am Körper. Heben Sie nun einen Arm nach oben so über den Kopf, dass der Oberarm bei gerade gehaltenem Kopf nah am Ohr liegt und beugen Sie rechtwinklig im Ellenbogengelenk. Führen Sie diesen Test mit beiden Armen nacheinander durch. Das Testergebnis ist gut, wenn die Ellenbogen Kontakt mit der Unterlage haben, andernfalls besteht ein Defizit mit Muskelverkürzung und Fehlhaltung, das therapiert werden sollte. Achten Sie sowohl im Beruf als auch in der Freizeit immer darauf, sich aufzurichten, die Schultern nach hinten zu nehmen und den Kopf gerade zu halten, oder möchten Sie sich gegen die Errungenschaften der Evolution wehren und Schmerzen ertragen zu müssen?
Der Übergang der Wirbelsäulenabschnitte BWS/LWS ist weniger sensibel. Die größten Probleme an der Wirbelsäule finden sich am Übergang von der Lendenwirbelsäule zum Kreuzbein, fachlich als lumbo-sakraler Übergang bezeichnet. Hier geht die Hohlschwingung der Lendenwirbelsäule über in die Rundschwingung des Kreuzbeins. Das Kreuzbein wird nach untern schmaler und hat die Form eines Dreiecks. Es ist gelenkig über zwei längliche Fugen mit dem Becken verbunden. Sie werden als Kreuz-Darmbein-Fugen oder Iliosakralgelenke bezeichnet. Das Becken besteht aus den drei paarigen Knochen Darmbeine (das sind die großen Schaufeln, die man seitlich an der Taille tastet), Schambeine (die beiden Schambeinknochen verbinden sich vorne zur sog. Symphyse) und den Sitzbeinen, die man im Bereich der Gesäßfalten tasten kann. Die drei Knochen jeder Seite bilden die beiden Pfannen für die Hüftgelenke. Den gesamten Bereich bezeichnet man auch als Lenden-Becken-Hüftregion (LBH), in der sehr viele Menschen Probleme entwickeln. Beschwerdefreies aufrechtes Sitzen, Stehen und Gehen sind nur möglich, wenn ein gut entwickeltes und ausgewogenes Verhältnis von Bauch-, Rücken- und Gesäßmuskeln besteht.
Häufig sind aber die Bauchmuskeln unterentwickelt, so dass das Becken nach vorne unten kippt und dadurch die Lendenlordose verstärkt wird. Das belastet die untere LWS so stark, dass die Bandscheiben verschleißen und zu chronischen Kreuzschmerzen führen. Bei Vielen ist die muskuläre Dysbalance so groß, dass sie die Fehlhaltung nicht mehr ausgleichen können. Sie ist ständig in jeder Körperposition vorhanden, im Stehen, beim Gehen und im Sitzen. Das größte Problem stellt dabei das Sitzen dar. Die Evolution hat nicht vorhersehen können, dass Menschen Aufzüge, Autos und Stühle erfinden und mehr als ein Drittel des Tages sitzen. Bei Naturvölkern kann man heute noch beobachten, dass sie sich auf den Boden kauern, d.h. das Gesäß hat keinen Bodenkontakt, sondern ruht schräg auf den Unterschenkeln. In dieser Stellung ist es nicht möglich, die Hohlschwingung der Lendenwirbelsäule zu überlasten. Der moderne Mensch tut das jedoch andauernd.
Übermäßiges und falsches Sitzen führt nicht nur zu orthopädischen Problemen, sondern belastet auch innere Organe und deren Funktionen. Studien haben ergeben, dass die negativen Auswirkungen des Sitzens vergleichbar sind mit den Folgen des Rauchens und Lebensqualität und Lebenserwartung einschränken. Es wurde der Slogan kreiert: Sitzen ist das neue Rauchen.
Welche gesundheitlichen Folgen daraus entstehen, wird in Teil 2 erklärt.
Weitere interssante Infomationen finden Sie in dem Buch „ORTHOPÄDIE VERSTEHEN“ von Herrn Dr. med. Jürgen Kosel.
Informationen zum Buch
ORTHOPÄDIE VERSTEHEN, Herausgeber: BoD – Books on Demand, ISBN: 978-3-7534-8003-9, Autor: Dr. med. Jürgen Kosel, 546 Seiten, Preis: 38,80 €
Link zur Webseite des Buches mit weiteren Informationen und Leseproben.