Krafttraining bei Rückenschmerzen – Wundermittel oder Wunschdenken?
Krafttraining kann auf verschiedene Weisen gestaltet werden: durch Widerstände innerhalb des eigenen Körpers (Bodyweight) und durch äußeren Gegendruck, bei dem spezifische Varianten unterschieden werden wie Powerlifting, Crossfit, Heavy slow resistance und Gerätetraining.
Mind before Matter
Aus physiologischer Sicht bedeutet Muskelkräftigung, dass einerseits mehr vorhandene Muskelfasern aktiviert werden und sich andererseits die Muskelfasern schneller (dynamische Kraft) und stärker (willkürliche Kraft) zusammenziehen können. Dies ist ein neurologisches Phänomen, das vom Gehirn gesteuert wird (Mind). Je mehr Steuerungspotential im Gehirn bewusst aktiviert wird, desto stärker spannt der Muskel an. Voraussetzung dafür ist, dass der Sportler oder Patient die genaue Funktion des Muskels im Sinne einer Bewegung richtig versteht. Erst wenn die Bewegung korrekt und vollständig ausgeführt wird, kommt Widerstand (Matter) in irgendeiner Form ins Spiel.
„Starke Gelenke – starke Muskeln“
Muskeln, Gelenke und die dazugehörigen Knochen sind physiologisch untrennbar miteinander verbunden. Ist ein Gelenk, aus welchem Grund auch immer, geschwächt, führt dies grundsätzlich und automatisch zu einer verringerten Muskelkraft. Umgekehrt schwächt eine zu geringe oder zu hohe Beanspruchung der Muskulatur die Gelenke, was wiederum eine Verringerung der Muskelkraft zur Folge hat. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, der bei längerer Dauer zu belastungsbedingten Rücken-, Gelenk- oder Muskelschmerzen führen kann. Ein adäquat durchgeführtes Krafttraining nimmt immer Rücksicht auf die Belastbarkeit des Gelenks, das von der zu kräftigenden Muskulatur bewegt wird. Nur so können Muskelkraft und Beweglichkeit effektiv verbessert und eventuelle Schmerzen reduziert werden. Aber das ist alles leichter gesagt als getan.
Kraftpaare – Muskelkette - Muskeln arbeiten niemals alleine
Um die Muskulatur im Einklang mit der Belastbarkeit des Gelenks zu trainieren, ist es wichtig, die Kontrollmechanismen der Muskeln zu verstehen. Besonders in Zusammenhang mit Rückenschmerzen ist ein gutes Verständnis der muskulären Steuerung der Schulter- und Hüftgelenke von Bedeutung. Diese Gelenke bestehen grundsätzlich aus zwei knöchernen Elementen: Eines sorgt für die Bewegung, das andere hat eine stabilisierende Funktion und stützt motorisch den beweglichen Teil. Im Schultergelenk ist der Oberarm beweglich, während das Schulterblatt relativ bewegungsarm ist. Im Hüftgelenk bewegt sich das Bein bis zu zehnmal mehr als das Becken.
Bewegung ist nur möglich, wenn sich die beiden Gelenkteile in entgegengesetzte Richtungen "bewegen". Mit anderen Worten: Das weniger bewegliche Becken oder Schulterblatt wird stabilisiert, damit es sich nicht in dieselbe Richtung wie der bewegliche Arm oder das Bein bewegt. Um diese gefühlsmäßig gegenläufigen Bewegungen korrekt auszuführen, müssen die verantwortlichen Muskeln zwar eng zusammenarbeiten, aber in entgegengesetzter Richtung wirken. Sie bilden ein Kräftepaar, indem sie einen inneren Widerstand gegeneinander erzeugen. Im Schultergelenk bilden die Schultermuskeln und die oberflächlichen Rücken- oder Schulterblattmuskeln ein Kräftepaar; im Hüftgelenk arbeiten die Hüftmuskeln und die Bauchmuskeln zusammen. Funktionieren diese Kräftepaare einwandfrei, werden die Kontaktflächen der Gelenke optimal aufeinander abgestimmt. So wird vermieden, dass es zu belastenden Gleitbewegungen im Gelenk kommt, die sowohl für das Gelenk als auch für die Muskeln nachteilig sein können.
Werden beide Kraftpaare miteinander verbunden, entsteht eine Bewegungskette, die die Belastung und die Belastbarkeit der Wirbelsäule sowie der Hüft- und Schultergelenke ins Gleichgewicht bringt und Beschwerden lindert oder vermeidet.
Die eine Bewegung ist nicht die Andere
Nicht alle Bewegungen belasten die Gelenke gleich stark. Die unterschiedlichen Hebel- und Lastarm Mechanismen der Bewegungen führen zu großen Unterschieden in der Belastbarkeit der Gelenke. Je geringer diese Belastbarkeit, desto höher ist das Risiko von Beschwerden oder Verletzungen. Grob gesagt, können Bewegungen entlang der Körperlängsachse am schwersten belastet werden (man denke nur an Gewichtheber und Dauerläufer). An zweiter Stelle stehen Spreiz- und Drehbewegungen nach außen oder eine Kombination dieser Bewegungen. Bei Ballsportarten sind diese Bewegungen häufig die Ursache für Verletzungen der Hüft- und Schultergelenke. Bewegungen wie das seitliche Heranführen zur Körpermitte oder das Innendrehen des Arms oder des Beins sind am wenigsten belastbar. Ein zusätzlicher hoher Lastarm (z. B. durch Gewicht oder Schwerkraft) kann die Belastung weiter erhöhen.
Es sollte jedoch beachtet werden, dass dies keine festen Regeln sind. Individuelle Faktoren wie Alter oder bestehende Beschwerden können die Präferenzen für bestimmte Bewegungen beeinflussen.
Kraft ist Koordination
Je näher das Gelenk der Endposition kommt und je höher die Belastung für die Muskeln wird, desto verlockender ist es für das stabilisierende Schulterblatt oder Becken, sich mit dem beweglichen Arm oder Bein in dieselbe Richtung zu bewegen. Die dafür verantwortlichen Muskeln müssen eng zusammenarbeiten, was eine mentale Herausforderung darstellt. Zudem müssen sie für die endgradigen, gegenläufigen Bewegungen eine enorme Kraft aufbringen. Für diese beiden Aufgaben ist höchste Konzentration erforderlich.
Richtiges Krafttraining ist Medizin
Obwohl viele Studien positive Auswirkungen von Krafttraining auf Muskelkraft und Ausdauer zeigen und teilweise über eine Verringerung der Beschwerden berichten, sind die Ergebnisse bei Rückenschmerzen oft enttäuschend. Gleichzeitig sind Kreuzschmerzen ein häufiges Problem bei Kraftsportlern, die Gewichte bis zum 4-fachen des Körpergewichts heben.
Ein medizinisches Ziel des Krafttrainings kann darin bestehen, den altersbedingten Rückgang von Skelett- und Muskelmasse, Kraft und Leistung auszugleichen und alle damit verbundenen Beschwerden zu beheben oder zu lindern. Im Laufe des Lebens nimmt die Muskelkraft und -leistung bis zu achtmal schneller ab als die Muskelmasse und ist stärker mit funktionellen Beeinträchtigungen und Schmerzen verbunden. Kraft und Leistung sind also nicht direkt mit der Muskelmasse verbunden. Daher sind Strategien zur Optimierung der Muskelkraft- und Leistung, sowie der damit eng verbundenen Gelenkfunktion, wichtiger als die reine Erhöhung der Muskelmasse.
Man sollte sich auch bewusst sein, dass Training eine langfristige Aufgabe ist, um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen und Rückfälle zu verhindern.
Fazit
Die weitverbreitete Auffassung, dass man nur durch das Heben schwerer Gewichte Muskeln aufbaut und Beschwerden lindert, ist schwer um zu lenken. Wichtiger ist jedoch die Kontrolle der Bewegung durch die gezielte Stärkung der relevanten Muskeln unter Berücksichtigung der Belastbarkeit der Gelenke, vor allem bei Beschwerden. Es ist daher wichtig, Patienten und Sportler in der korrekten Durchführung von Krafttraining zu schulen.
Übungsvideo
In diesem Aufklärungsvideo erfahren Sie, wie Sie durch richtiges Krafttraining relativ einfach, aber effektiv Ihre Rücken- oder Gelenkbeschwerden entgegentreten können.
Krafttraining
Quelle
Der Inhalt dieses Beitrags basiert auf dem Inhalt des Buches „Trainingskonzeption für Patienten mit Rückenschmerz – PhysioNovo – Angewandte Rehabilitation und Sporttherapie“, erschienen beim Springer Nature Verlag.