Interview: „Dieses Verfahren ist bisher weltweit einmalig“

Ein deutsches Chirurgenteam hat eine neue Methode zur kompletten Rekonstruktion der Kniescheibe entwickelt.
Prof. Dr. Goetz A. Giessler (Bild) ist Direktor der Klinik für Plastisch-rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie im Klinikum Kassel. Sein Kollege Prof. Dr. Christian Hendrich ist als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin und Spezielle Orthopädische Chirurgie am Orthopädischen Krankenhaus Schloss Werneck in Bayern tätig. (Bild: Prof. Dr. Goetz A. Giessler)

Kassel – Bei einem Komplettverlust der Kniescheibe (Patella) aufgrund einer Infektion oder eines schweren Traumas gab es bisher nicht viele Möglichkeiten, dem Patienten zu einer neuen Kniescheibe und erneut zum schmerzfreien Gehen zu verhelfen. Dank einer weltweit bisher einmaligen Kombination aufwendigster plastisch-mikrochirurgischer Verfahren und orthopädischer Gelenkendoprothetik hat ein Chirurgenteam einer 51-jährigen Patientin nun genau dies ermöglicht. Die neue Methode zur kompletten Rekonstruktion der Patella aus körpereigenem, durchblutetem Knochenmaterial wurde gemeinsam von dem Plastischen Chirurgen Prof. Dr. Goetz A. Giessler aus Kassel und dem Orthopäden Prof. Dr. Christian Hendrich aus Werneck entwickelt. Orthinform sprach mit Giessler über das neue, maßgeschneiderte Verfahren, die Vorteile für den Patienten und Herausforderungen für den Operateur.

Orthinform: Prof. Dr. Giessler, welche Folgen kann der komplette Verlust der Patella für den Patienten haben und welche Möglichkeiten des Patellaersatzes stehen Chirurgen bisher zur Verfügung?
Prof. Dr. Goetz A. Giessler: Es gibt durchaus Patienten, die auch ohne Kniescheibe zurechtkommen, aber die meisten haben doch erhebliche Probleme damit. Oft sind ein erheblicher Kraftverlust, Instabilität und vor allem Schmerzen die Folge. Die erste Möglichkeit des Patellaersatzes ist die Transplantation eines nicht vaskularisierten, körpereigenen Knochenblocks. Dieser wird unter dem Ligament eingesetzt – also dort, wo die Patella normalerweise sitzt. Darauf wird dann ein Gleitflächenersatz zementiert. Das Problem dabei ist, dass dieser Knochenblock nicht durchblutet wird. Dies kann dazu führen, dass er durch den entstehenden Druck resorbiert wird, dass er sich infiziert oder bricht, also einfach mechanisch versagt. Die zweite Möglichkeit wäre, einen fremden Knochenblock, also ein Allotransplantat von einem verstorbenen Spender zu verwenden. Doch hier ist das Risiko von Infektionen und der Resorption des Transplantats noch größer.

Orthinform: Wie sind Sie und Ihr Kollege, Prof. Dr. Hendrich, bei der Rekonstruktion der Patella vorgegangen, und welche Vorteile hat das neue Verfahren?
Giessler: Grundsätzlich ist es so, dass es bei einer Arthrose der Patellarückfläche die Möglichkeit gibt, einen prothetischen Ersatz vorzunehmen. In den meisten Fällen ist dafür noch ein gewisser Knochenrest vorhanden, auf den der entsprechende Titansockel und darauf der Gleitflächenersatz aus Teflon gesetzt werden kann. Wenn allerdings überhaupt kein Knochen mehr vorhanden ist, wie im Falle unserer Patientin, kann man den Sockel aus Titan nicht einfach mit dem Band verbinden. Es ist irgendeine Art Knochensockel notwendig, damit die Prothese einheilen kann.

Aufgrund der bereits genannten Nachteile von nicht vaskularisierten Transplantaten wollten wir bei unserer Patientin einen durchbluteten Knochen verwenden. Ein vitaler, durchbluteter Knochen ist immer dynamisch, das heißt, er passt sich der Belastung an. Außerdem heilt er viel schneller ein und ist infektresistenter.

Auf Basis einer Computertomographie der gesunden Patella, die wir virtuell gespiegelt haben, wurde ein 3-D-gedrucktes Modell aus Kunststoff angefertigt. So hatten wir eine gute Vorstellung von der Dimension, die das Knochentransplantat haben musste. Es musste ausreichend groß und stabil sein. Da die Kniescheibe relativ weit weg ist von den meisten nutzbaren Empfängergefäßen, brauchten wir außerdem einen möglichst langen Gefäßstiel. Aufgrund der Form der Patella haben wir uns für die Schulterblattspitze entschieden, die einen sehr langen Gefäßstiel hat, der üblicherweise für Gesichtsrekonstruktionen oder für Rekonstruktionen an der oberen Extremität verwendet wird.

Außerdem war es uns wichtig, eine Situation zu schaffen, in der wir zu jedem Zeitpunkt auch wieder zurück konnten, falls etwas nicht funktioniert oder es zu Komplikationen kommt. Deswegen haben wir nicht in einem Schritt transplantiert, sondern ein abgestuftes Verfahren angewendet. Zunächst haben wir den Implantatsockel in die Schulterblattspitze eingesetzt und diesen einheilen lassen. Daraufhin hat die Patientin dann eine Kniegelenksprothese eingesetzt bekommen – erst einmal ohne Gleitflächenersatz der Patella. Anschließend hat sie eine Rehabilitationstherapie erhalten, bis sie die optimale Beweglichkeit im Kniegelenk wiedererlangt hatte.

In der Zwischenzeit hatte sich der Titansockel mit dem Schulterblattknochen perfekt verbunden. Nun konnten wir die Patientin erneut operieren: Wir haben ihr das Knochentransplantat samt Titansockel und Gefäßstiel an der Schulter entnommen und darauf die Teflongleitfläche zementiert. Dann haben wir dieses gesamte Modulsystem unter die Strecksehne genäht und haben mikrochirurgisch die Gefäße angeschlossen.

Nach einer Ruhigstellung von sechs Wochen konnte die Patientin erneut mit der Physio- und Rehabilitationstherapie beginnen. Inzwischen läuft sie beschwerdefrei und ist wieder in ihrem alten Beruf integriert und sehr glücklich mit dem Ergebnis. Inklusive der Reha hat die gesamte Behandlung insgesamt etwa sieben Monate gedauert. Das Besondere an unserer Vorgehensweise ist, dass wir aus drei verschiedenen Modulen – der Schulterblattspitze samt Gefäßstiel, dem Prothesensockel aus Titan und der Teflongleitfläche – ein präfabriziertes Hybridtransplantat entwickelt haben. Dieses Verfahren ist in der Orthopädie bisher weltweit einmalig und bringt für den Patienten ein individualisiertes, optimales Ergebnis.

Orthinform: Welche Herausforderungen birgt die neue Methode für den Operateur?
Giessler: Einerseits erfordert das Verfahren eine hohe fachliche Expertise in den verschiedenen Disziplinen. Aus plastisch-chirurgischer Sicht sollte man Experte in der Mikrochirurgie sein und sehr gut mit den gefäßgestielten Knochentransplantationen vertraut sein. Auf orthopädischer Seite ist die Expertise im Bereich der Prothetik besonders wichtig, um zwischen den verschiedenen Prothesentypen die beste für den Patienten auswählen zu können. Zudem ist in der ortho-plastischen Chirurgie eine gewisse Kenntnis der benachbarten Fachdisziplinen von Bedeutung, wenn man für den Patienten alle Register ziehen möchte. Man sollte die Methoden des anderen Fachs kennen, wenn nicht gar beherrschen und mit deren Vor- und Nachteilen vertraut sein. Auf der anderen Seite ist vor allem eine gute Kommunikation zwischen den Disziplinen notwendig. Alles muss klar besprochen und ein entsprechender Behandlungsplan aufgestellt werden.

Orthinform: Sind bereits weitere Eingriffe mit dem neuen Verfahren geplant? Für welche Patienten kommt es in Frage?
Giessler: Grundsätzlich ist das Verfahren für jeden Patienten ohne Patella geeignet, der eine Kniegelenksprothese möchte oder braucht. Voraussetzung dafür ist, dass er Nichtraucher ist und dass er ein gesundes Schulterblatt ohne vorherige Verletzungen oder Frakturen hat. Ich würde das Verfahren sofort wieder anbieten, wenn der entsprechende Fall da ist, denn es verlief alles sehr reibungslos und ohne Probleme. Aber diese Fälle sind Gott sei Dank sehr selten. Nur in Einzelfällen muss die gesamte Patella aufgrund eines massiven Traumas oder einer Infektion entfernt werden. In der Regel bleibt noch ein gewisser Knochen übrig, an den man die Prothese unmittelbar anbringen kann. Bei den nächsten Patienten, für die das neue Verfahren in Frage kommt, würde ich die Behandlung direkt im Rahmen einer Studie durchführen und die Patienten nach den Eingriffen mittels eines Knie-Scores untersuchen, denn es gibt insgesamt nur sehr wenige Publikationen zu diesem Thema oder den möglichen Alternativverfahren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Anne Faulmann.

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